16. August 2014

16. August 2014

Mein Tag in Kamakura.
Am Vormittag im Hotel Toyoko Inn in Koishikawa (Bunko-Ku, Tokyo) ein  wenig Emails gelesen, teilweise beantwortet. Um 13:00 Uhr Aufbruch. Vom Bahnhof Korakuen mit der Marunouchi-Ubahn nach Tokyo. Ich hatte mich auf einen langen Weg zur Yokosuka-Linie eingestellt (wie mir geraten worden war!, denn der Bahnhof Tokyo ist groß, die Wege lang, viel Zeit fürs Umsteigen sei notwendig). Aber gleich beim Aussteigen sehe ich, dass die Bahn nach Kamakura, also die Yokosuka-Linie gleich der erste Bahnsteig ist - jedoch einige Stockwerke tiefer. Diese Yokosuka-Linie hängt mit der Linie nach Narita, dem Flughafen zusammen. Ubahn fahren in Tokyo macht Spass - vor allem seit man von einer Linie in die andere mit derselben Fahrkarte umsteigen kann, obwohl eine ganz andere Firma dahinter steht. Und weil man mit einer SUIKO-Karte nicht ein Mal den Geldbeutel zu öffnen braucht, sondern diese Karte einfach beim Durchgang auf die Anzeige legt.

Die Bahnhöfe sind hier alle auf Japanisch und Englisch beschriftet, auch jemand, der kein Japanisch kann, verfehlt so seinen Zielbahnhof nicht. Nach Kamakura dauert die Fahrt von Tokyo aus eine Stunde plus ein Paar Minuten. Sie fährt durch eine Meer von Häusern, hohe und niedrige, Büros und Fabriken, Kinderspielplätzen und Stadien, Golfplätze am Boden und Golfplätze auf den Dächern: Shinagawa, Kawasaki, Yokohama, Ofuna, Kamakura – alles große Namen für große Städte, und zuletzt Yokosuka. Hier hat die US-Marine einen ihrer großen "Heimathäfen". Ich steige in Kamakura aus und mit mir fast alle Reisenden. Kamakura ist eine sehr alte Stadt mit viel Kultur, vor allem Buddhistischer Kultur. Vor unzähligen Jahren haben wir, die Familie, diese Kulturstadt besucht; den Kindern bleibt immer noch die große Buddhastatue im Gedächtnis. Aber heute geht es mir nicht um Buddha und buddh. Kultur, obwohl eine Auffrischung dringend notwendig wäre!, sondern um einen Besuch bei einem alten Freund und Kollegen, Pfarrer ARAI Jin.

Die Kamakura-Oncho-Kirche (鎌倉恩寵教会) steht nah beim neuen Rathaus von Kamakura,  zu Fuß etwa 20 Minuten vom Bahnhof. Die Wegbeschreibung, die ich vom Kollegen erhalten habe, war einfach zu befolgen. Während ich noch ein paar Aufnahmen von der Kirche mache, tritt Arai-Sensei aus der Kirche heraus auf mich zu: "Schön, dass Sie gekommen sind". Es sind seit unserem letzten Treffen an die 30 Jahre verstrichen. Pfr. Arai war in meinem letzten Dienstjahr im Kyodan-Office als neuer Mitarbeiter eingetreten und übernahm dann, als ich nach 1984 Deutschland zurückkehrte,  auch meine Abteilung "Kirche und Gesellschaft". Aber unsere Gespräche drehen sich heute nicht so sehr um Vergangenes als vielmehr um die Gegenwart, die Gegenwart in Kirche und Gesellschaft Japans. Beide sind voller Probleme, die das Leben vieler gemeinsamer Freunde und vieler Christen im Lande belasten:  
Fukushima und die radioaktive Strahlung (ich berichte von meinem Besuch in Fukushima und Miyagi),
Yasukuni-Schrein (in dem auch die Kriegsverbrecher vom 2. Weltkrieg verehrt werden),
Artikel 9 der Friedensverfassung (die MP Abe neu interpretiert hat, so dass Japan fortan auch wieder Krieg führen kann - trotz des Friedensartikels 9 in der Verfassung),
Okinawa (wo mitten im schönen und seltenen Korallengebiet von Henoko ein neuer Hafen für die US-Navy entsteht und zwar gegen allen Widerstand der Menschen auf Okinawa),
Hate-speeches (Hass-Reden der rechtsradikalen Organisationen gegen Ausländer, bes. die Koreaner im Lande), Nationaler Kirchenrat (dessen aktive Kommissionen die Fenster zur Gesellschaft offenhalten und breit kommunizieren können, während das Office des NCCJ mit dem Umzug beschäftigt ist. Das Gebäude des NCCJ muss den neuen Erdbebenrichtlinien der Regierung entsprechend umgebaut werden).

Zwei Problemkreise bewegen uns beide gleichermaßen, zum einen: das Miteinander der Religionen und die Frage nach der Mission heute und hier.  In Kamakura gibt es die „Kamakura Shukyosha Kaigi“, die Kooperation der Religionsgruppen in Kamakura. Nicht dass alle Tempel, Schreine und Kirchen Mitglieder wären, aber doch eine beträchtliche Anzahl und das schon seit vielen Jahren – nicht erst seit dem 11.3., dem Tag der Dreifachkatastrophe im Tohoku, im Nordosten Japans.  Im Zusammenhang mit Gedenkfeiern für die Tausende von Toten, Verschwundenen, Geflüchteten, Verwirrten und Ratlosen Menschen war mir aufgefallen, dass hier in Kamakura mit großer Selbstverständlichkeit gemeinsame Feiern stattfanden. Und dass auf protestantischer Seite ein Pfarrer, den ich auch noch kannte, dabei eine wichtige Vermittlerrolle spielte. Meine jetzige Nachfrage ergab, dass sich noch ein zweiter evangelischer Pfarrer zu dieser Kooperation bereit fand. Insgesamt sind es etwa 35 Geistliche: buddhistische und shintoistische Priester, katholische und evang. Pfarrer.  Mitglieder in diesem Verein aber gibt es etwa 80.  Ich frage nach der Einstellung der Shintopriester zu solcher Zusammenarbeit, denn am Tag zuvor war ich wieder an die Feiern im Yasukunischrein erinnert worden, gegen die wir am frühen Morgen des 15. August einen christlichen Gottesdienst durchführten, anschließend eine Veranstaltung zu „Yasukunischrein, die ‚Trostfrauen’ und MP Abe“ und am Nachmittag noch eine Demonstration mit gewalttätigen Angriffen auf den Demonstrationszug. Die Angreifer waren alle junge und ältere Männer (und teilweise Frauen), die meinten, sie müssten den Yasukunischrein gegen diese „Ausländer“ verteidigen. Jeder, der gegen den Yasukunischrein und gegen das, was er darstellt ist, wird als Feind Japans betrachtet und soll doch besser Japan verlassen.  Und nun hier in Kamakura arbeiten doch einige Shintoschreine mit den andern Religionen zusammen.

Der Grund liegt einfach darin, dass der volkstümliche, überall in Japan gegenwärtige Shinto wenig oder nichts mit dem Yasukunischrein zu tun hat.  Letzterer ist eine Gründung des Meiji-Tenno, um eine Staatsreligion herzustellen, ähnlich der Stellung des Christentums in westlichen Ländern, um das neue Japan stark erscheinen zu lassen. So wurden dann die Toten aller Kriege seit der Meiji-Restauration in diesem Schrein „eingeschreint“, d.h. die Namen auf Holztafeln hinterlegt und verehrt. In der Zeit des 2. Weltkrieges wurden auch die Shintoschreine vielerlei Zwängen unterzogen, damit sie den Yasukunischrein, den Krieg und die damalige Politik unterstützten. Viele Shinto-Priester haben damals viel gelitten, so wie buddhistische Tempel und christliche Kirchen. Diese Geschichten wurden lange Jahre nicht erzählt oder einfach vergessen, tauchen aber jetzt aus der langen Vergessenheit auf. Die Kinder oder Enkel derer, die damals erniedrigt wurden und denen oft nichts als das nackte Leben geblieben war, erinnern sich heute an diese Geschichte angesichts der neuen Gefahr, die die rechtsradikale Politik von MP Abe für die ganze Gesellschaft Japans mit sich bringt. Auch in dieser „Hochburg“ des Buddhismus, Kamakura, gibt es solche Geschichten. So helfen sie heute dazu, dass die Religionen (deren Kraft in der modernen Gesellschaft Japans ebenso nachlässt wie bei uns der Einfluss der Kirchen) näher zusammenrücken. Die Not in Fukushima und die Probleme der Gesellschaft brauchen dieses offene und unvoreingenommene Miteinander, damit eine Gesundung des Landes eintreten kann.

Pfarrer Arai gehört zu denen, die gemeinsam mit andern Wege aus der Krise suchen und dafür Zeit und Kraft einsetzen  -  ohne dafür einen Auftrag zu besitzen. In  dem Verein „Shukyosha Kaigi“ trifft man sich monatlich mindestens ein Mal zum gemeinsamen Studium:  die Grundlagen der Zusammenarbeit der Religionen werden erforscht und durchleuchtet, die Folgen der Fukushima-Katastrophe und die Erkenntnisse daraus für den Umgang mit Atomkraft werden rezipiert und soweit möglich, in der Praxis umgesetzt (Organisieren von Besuchen  im Katastrophengebiet, Hilfe für Kinder und finanzielle Unterstützung).  Vielleicht das auf Dauer wichtigste Element  der Zusammenarbeit heisst „majiwari“, Gemeinschaft, sich kennen lernen, sich befreunden, einander annehmen und dann gemeinsam handeln. In Kamakura kann man das lernen. Nicht umsonst kommen auch Jahr für Jahr ein paar Studierende aus Kyoto, die sich über die EMS zum Studium der japanischen Religionen dort eingefunden haben, für einen Tag nach Kamakura. Pfr. Arai zeigt ihnen die Wege.

Es gibt eine Zusammenarbeit zwischen  buddhistischen Tempeln und shintoistischen Schreinen schon seit über 10 Jahren, die zwischen katholischen und protestantischen Gemeinde bereits seit 30 Jahren.  Daneben haben Katholiken und Buddhisten eine Tradition der Zusammenarbeit über die Schulen.

Die Schulen sind ein wichtiger Lernort  -  auch für die Schärfung des Problembewusstseins der Kinder und Jugendlichen. Das herausragende Problem sind die „cults“ wie die Aum Shinri Kyo (Sie erinnern sich an den Sarin-Gasangriff in einer Ubahnstation in Tokyo im Jahre 1995), von der ich annahm, sie sei heute nicht mehr aktiv, von der ich nun höre, dass sie nicht  nur nach wie vor, sondern heute verstärkt Mitglieder hat und sammelt. Die neuen Mitglieder wissen nichts mehr vom Sarin, nichts von dem Gefahren die hier und in ähnlichen „cults“ lauern. Auch kennen sie den Gerichtsprozess nicht, der immer noch  nicht zu Ende gebracht wurde.

Ähnliche „cults“, die den Leuten das Geld aus der Tasche stehlen, gibt es zu Hauf.  Die Religionen sind gefordert, wenn es sich um den Missbrauch von Religion handelt – ob durch die Regierung oder durch solche „cults“. Gewalt und Geldgier sind Merkmale dieser Bewegungen.

Mission ist das andere Stichwort unseres Gesprächs. Wenn man auf die über drei-jährige Arbeit der Kirchen und der Christen in Fukushima und in ganz Tohoku zurückblickt und diesen Dienst an der notleidenden Gesellschaft in Fukushima, Miyagi und Iwate in Beziehung setzt zu dem sog. missionarischen Erfolg, den man fast allerorts erwartet hat, dann ist man sehr enttäuscht. Es gibt keine massenweise Hinwendung zum Christentum. Ja,  die Zahl derer, die durch die Aufräumarbeiten oder jetzt vermehrt durch die Aufbauarbeiten im landwirtschaftlichen Bereich animiert worden sind, Christen zu werden, hält sich sehr in Grenzen, ist kaum messbar. „Diakonischem Dienst“ ist in diesem Bereich kein Erfolg beschieden. Mission braucht andere Wege und sucht hierzulande andere Zugänge, viel unscheinbarere.

In den letzten 4 Monaten ließen sich 7 Gemeindeglieder in der Oncho-Gemeinde taufen. Völlig unabhängig voneinander baten sie um die Taufe. Darum gab es an vielen Sonntagen eine Taufe. Wie kam es dazu? Zusammenfassend kann gesagt werden, dass dort, wo Vertrauen von Mensch zu Mensch gewachsen ist, auch das Vertrauen zu dem Gott wächst, an dem einer hängt. In allen diesen Fällen war es nicht in erster Linie das Vertrauen zum Pfarrer, auch nicht das Wissen um den christlichen Gott, sondern das Vertrauen zu dem einen oder andern Gemeindeglied.

Ein solches Vertrauen von Mensch zu Mensch entsteht nicht über Nacht, das braucht in der Regel lange Zeit zum Wachsen und Reifen. Und man muss in den Schulen damit beginnen. Pfr. Arai unterrichtet „Religion“ in einer christlichen Schule. Er wurde, ehe er diese Aufgabe übernahm, gewarnt: die Schüler seien alle desinteressiert, die Lehrmittel veraltet, die Atmosphäre an der Schule für die Kinder langweilig. Also ohne Hoffnung? Pfr. Arai ließ sich etwas einfallen. Wenn die Kinder schon  beim Gebet zu Beginn des Unterrichts murren und sich mit andern Dingen befassen, dann ... Pfr. Arai bezieht die Kinder in seine Überlegungen mit ein.  Wenn sie kein Gebet wollen, dann schreibt er ihnen für den Einstieg in seinen Unterricht jedes Mal einen Bibelvers und ein Gebet dazu auf und verteilt diesen Zettel. Und was geschieht? Die Kinder sind begeistert, heften die Zettel ab, und lesen sie , wann immer sie Lust oder das Bedürfnis verspüren. Und so kann jede Unterrichtsstunde mit einem gemeinsam gesprochenen Bibeltext und Gebet begonnen werden. Ein Kollege von Pfr. Arai, der auch seine Schwierigkeiten mit den Jugendlichen hatte, griff dieses Beispiel auf und auch hier sind die Kinder begeistert. Plötzlich herrscht Vertrauen und Einverständnis zwischen Lehrer und Schülern. „Vertrauen“, Menschen vertrauen einander – das ist eines der Grundthemen, die mich auf dieser Japanreise begleiten. In Fukushima wie in Kamakura, in Sendai wie in Iwaki, in Koriyama wie in Aizu-Wakamtsu, bei Christen wie Nichtchristen, zwischen den Menschen gelingt das Leben nur, wenn Vertrauen herrscht, das die natürlichen oder durch Menschenhand geschaffenen Zwischenräume überbrücken kann. Mission in Japan geschieht nicht in Großveranstaltungen, nicht durch gewaltige Predigten, nicht durch langes Beten, sondern in aller Regel im Kleinen, dort wo Vertrauen von Mensch zu Mensch fast im Verborgenen wachsen darf.

Ein weiteres Gesprächsthema, das am Ende meines Aufenthaltes dann noch ein paar Minuten beansprucht, ist Tomisaka Christian Center bzw. die Stiftung Christian East Asia Mission. Wir, die DOAM, haben mit den japanischen Partnern vor ein paar Jahren die Vereinbarung getroffen, dass sie künftig die Arbeit in Tomisaka in eigener Regie und Verantwortung wahrnehmen. Das war schon in den 80er Jahren vorbereitet, in den 90er Jahren dann Stück für Stück vollzogen worden. Die neue japanische Gesetzgebung für Stiftungen verlangte schließlich eine völlige Umstrukturierung der alten Organisation (aus den Nachkriegsjahren). Mit diesem Vorgang schloß darum auch die DOAM (in Absprache mit der SOAM) ihre direkte Missionsarbeit in Japan nach über 125 Jahren ab. Diese Geschichte sollte dringend aufgearbeitet werden. Ein paar kleinere Vorarbeiten dafür liegen sowohl auf japanischer als auch auf deutscher Seite vor. - Seit diesem Jahr gehört Pfr. Arai zum Verwaltungsausschuss für das Tomisaka Christian Center (TCC). Ich bin sehr glücklich über diese "Personalie", andere vielleicht weniger.

Tomisaka hat vier Hauptaufgaben:
1. die Verwaltung der Immobilie in der Nähe des großen Rathauses des Bunkyo-ku und vierer Ubahnlinien. Dazu gehört ein großer Parkplatz, auf dessen Einnahmen das TCC angewiesen ist. (Infolge der lange andauernden Wirtschaftskrise in Japan mussten mehrere Parkplätze in der näheren Umgebung ihre Plätze schließen - das kam dem TCC zugute.)
2. die sozial-ethische Forschungsstelle (unter der Leitung von Pfr. Dr. Suzuki wurden in den vergangenen über 30 Jahren wichtige Bücher herausgebracht, die teils in Schulen, teils in theol. Ausbildungsstätten und auch bei manchen NGOs zu wichtigen Lehr- oder Lernbüchern geworden sind.)    
3. die Tagesstätte für behinderte Kinder (in Zusammenarbeit mit dem Stadtbezirk)
4. das "Pastoralkolleg", das derzeit eine neue Ausrichtung diskutiert:  auf Okinawa, einem der größten Brennpunkte von Politik, Wirtschaft, Militär und Gesellschaft, will man mit den Interessenten unter den Pfarrern im ganzen Land das gemeinsame Gespräch voranbringen, Diskriminierung überwinden helfen:  auf jeden Fall einen offenen Dialog führen zwischen allen, die dazu bereit sind.

Die Leistung von Tomisaka war ausschlaggebend für die Neukonstituierung der Ostasienmission in Japan als jap. "Stiftung Christliche Ostasienmission". Wir hoffen, dass diese Arbeit mit Gottes Hilfe und bei entsprechender Annahme der jeweiligen gesellschaftlichen Herausforderungen auch künftig ihren Beitrag zur Kirche Jesu Christi in diesem Lande leisten kann.