Elsbeth Strohm: Die mit den Menschen lebte

"Der Kitzinger", 2012-02-02, Karina Brock schreibt:
Wir publizieren mit freundlicher Erlaubnis der Autorin.

"Die mit den Menschen lebte"

Soziales. Im Gangsterviertel von Osaka hat Elsbeth Strohm vor knapp 50 Jahren ihre Bestimmung gefunden. Fast im Alleingang baute sie dort soziale Einrichtungen auf. Heute feiert die kämpferische Missionarin ihren 90. Geburtstag.
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Kitzingen – Sie hat mit Menschen gelebt, die niemand kennen will, Verhältnisse gesehen, die viele lieber verborgen hätten, Hilfe geleistet, wo andere weggeschaut haben. Elsbeth Strohm lebte in Japan viele Jahre unter Alkoholikern, Prostituierten und Kriminellen. Sie kannte die Ausgestoßenen der Gesellschaft und versuchte, ihnen zu helfen. Heute wird die ehemalige Missionarin 90 Jahre alt. Ihren Lebensabend verbringt sie im Haus Mainblick in Kitzingen.

Elsbeth Strohm sitzt in ihrem Appartment und gießt grünen Tee auf. Ihre Augen blitzen intelligent unter der flotten Kurzhaarfrisur hervor. „Was wollen Sie denn wissen?", fragt sie. „Alles", antworte ich. Also beginnt sie zu erzählen.

Kein leichter Weg
Von ihren Eltern und den neun Geschwistern. Von vielen Umzügen und der Flucht aus Breslau in den Westen. Von der Bibelschule im Schwarzwald und ihrem Vorhaben, Ordensschwester zu werden. „Mir war schon mit 15 klar, dass das mein Weg ist." Ein Weg, der nicht leicht war, vor allem, weil Elsbeth Strohm ihn sich nicht leicht machte.

Schon früh arbeitete sie in Frankfurt in der so genannten Mitternachtsmission. Sie half Prostituierten, die aussteigen wollten bei der Arbeitssuche, betreute sie in einem Heim, betrieb Seelsorge. Nach ihrer Ausbildung wollte sie wieder zu dieser Arbeit zurück. „Es war erfüllend, Menschen so sichtbar helfen zu können." Schon damals fand sie, dass die Institution Kirche viel zu weit weg war, von diesen Menschen. Eine Erfahrung, die sich später wiederholten sollte.

Es war ihr Missionsdirektor von der Bibelschule, der sie 1953 gemeinsam mit zwei anderen Frauen nach Japan schickte. Der Auftrag: In Tokio eine Mitternachtsmission nach deutschem Vorbild aufzubauen. Aber das war unmöglich: „Die Prostituierten arbeiten dort nicht auf der Straße, sondern sind Leibeigene von Gangsterbanden." Sie leben eingesperrt in Häusern, die sie nie verlassen. An sie kam man nicht ran. Und an Resozialisierung war ohnehin nicht zu denken. „Jede Familie hat dort ihren Stand. Fällt man da einmal raus, kommt man nicht wieder rein." Strohm war klar: Hier muss man anders vorgehen. Aber sowohl ihre beiden Begleiterinnen, als auch die Kirche sträubten sich dagegen. So verließ sie drei Jahre später die Stadt, ohne irgendetwas erreicht zu haben.

Bis 1959 half sie in einem privaten Lungenkrankenhaus im Landesinneren. Sie arbeitete mit Behinderten und gefallenen Frauen. Körperlich und seelisch erschöpft kam sie anschließend auf Heimaturlaub. „Für mich war klar, dass ich auf keinen Fall mehr zurückgehe." Sie stieg wieder in die Mitternachtsmission ein – diesmal in Dortmund – , bis ihr Missionsdirektor sie erneut bat, nach Japan zu gehen. „Ich wollte nicht wirklich, habe mich aber verpflichtet gefühlt."

Die nächste Enttäuschung
Sie kam nach Kofu in ein Frauenheim, wo sie wieder nicht so helfen konnte, wie sie es gerne getan hätte. Auf eigene Faust bat sie die lutherische Landeskirche, die Gemeinden im Land bereisen zu dürfen. „Ich wollte schauen, wo ich eine Diakoniegemeinschaft aufbauen kann – wie Sozialarbeit wirklich geht, mussten die ja erst einmal lernen." Sie reiste durchs Land und wurde fündig. Ein Pfarrer in Osaka ging mit ihr in den Stadtteil Kamagasaki. „Dort lebten die Ausgestoßenen: Prostituierte, Alkoholkranke, Verbrecher – der Menschenmüll der Wohlstandsgesellschaft." Sie konnte nicht verstehen, warum die Kirche dort nicht arbeitet. Die lapidare Antwort: Weil niemand freiwillig dorthin ging. „Aber ich wollte genau da hin."

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Weder die Landeskirche in Japan, noch ihre Kirche in Deutschland war begeistert von ihren Plänen. Trotzdem bekam sie Geld von der Hannoverschen Landeskirche, so dass sie sich 1964 ein Haus in Kamagasaki kaufen und mit ihrer Arbeit beginnen konnte. Sie stellte sich bei allen Institutionen vor: Polizei, Fürsorge, Krankenhilfe, Schule, Gemeinschaftshaus. Dabei brach sie mit allen japanischen Konventionen, da man normalerweise darauf wartet, vorgestellt zu werden. Trotzdem stand, kaum dass sie eingezogen war, auch schon das erste Kind vor der Tür, das sie betreuen sollte. „Mit Kindern wollte ich nie arbeiten – aber ich habe natürlich Ja gesagt." Daraus entwickelte sich eine Kleinkindbetreuung, zunächst in ihrem eigenen Haus. Später kam ein zweites Haus für Schulkinder dazu.

Ökumenische Gruppe
Ab 1970 bekam sie Hilfe von Idealisten aus dem In- und Ausland. Es etablierten sich verschiedene Gruppen im Viertel, die mit alten Leuten arbeiteten, Seelsorge betrieben, Gottesdienste hielten oder sich für bessere Arbeitsbedingungen für die Tagelöhner einsetzten. Viele Mitglieder dieser ökumenischen Gruppe eiferten Strohms Vorbild nach und zogen nach Kamagasaki, um mit den Menschen zusammen zu leben.

1973 kam noch die Arbeit mit Alkoholkranken hinzu. Elsbeth Strohm begann, sich um die Männer zu kümmern, die nach einem Krankenhausaufenthalt versuchten, der Sucht nicht erneut zu verfallen. „Auch hier bin ich andere Wege gegangen, als die etablierten Alkoholiker-Gruppen. Und wieder war meine Arbeit nicht gewollt." Sie bot Gesprächstherapie an, gemeinsame Unternehmungen, Gedichteschreiben. Das sei keine Alkoholiker-Arbeit, hieß es. Aber Strohm hat weiter gemacht – mit Erfolg. Als sie Japan 1983 schließlich verließ, hatte sie zwei Kinder- und ein Männerhaus aufgebaut. Einrichtungen, die bis heute existieren – allerdings außerkirchlich.

In Braunschweig – inzwischen gehörte sie zur dortigen Landeskirche – wurde die Missionarin aber nicht gerade in Ehren empfangen. Sie bekam zunächst keine Rente, musste erst noch ein Jahr in die Krankenhausseelsorge, fühlte sich nicht mehr wohl im „gefühlskalten Deutschland". 20 Jahre lang kam sie nirgends richtig an. Bis sie sich in Shiatsu ausbilden ließ – einer japanischen Körpertherapie – und 2003 einer Anfrage von der Communität Casteller Ring auf den Schwanberg folgte. Dort unterrichtete sie Shiatsu, bis sie nach einem Zeckenbiss an Borreliose erkrankte.

Seitdem lebt Elsbeth Strohm bescheiden und ruhig im Haus Mainblick in Kitzingen. In anderthalb Wochen wird es aber zumindest kurz vorbei sein mit der Ruhe: Von 10. bis 12. Februar veranstaltet die Deutsche Ostasien-Mission als Geburtstagsfeier für die Jubilarin ein Symposium auf dem Schwanberg. Organisator ist der Ehrenvorsitzende, Pfarrer Paul Schneiss, der die Missionarin Mitte der 70er Jahre kennen lernte und seitdem zu ihren Bewunderern gehört. „Sie war die erste, die zu den Menschen ging und mit ihnen gelebt hat – und das als Ausländerin." Sie habe erkannt, dass man den Glauben nur dann zu den Menschen bringen könne, wenn man unter ihnen lebt. „An so etwas hat zu dieser Zeit kein anderer Missionar gedacht. Es gibt niemanden, der mit ihr vergleichbar wäre."

Annäherung am Geburtstag?
Strohm selbst hofft, dass diese Begegnung eine Annäherung an die lutherische Kirche in Japan bringt, die sie hat fallen lassen und ihre Arbeit in Osaka bis heute nicht anerkennt. Außerdem wird sie ihre Japanisch-Kenntnisse wieder hervorkramen können, wenn sie mit alten Freunden und Mitarbeitern ins Gespräch kommt. „Es ist aufregend, was da auf mich zukommt." Zur Beruhigung wird sie grünen Tee trinken, bis es soweit ist. Diese Angewohnheit ist ihr aus Japan geblieben.