2014: Gedenken - Erinnerungen für die Zukunft

Gedenken - Texte aus Deutschland

„Gedenken zielt auf Zukunft“

EKD-Empfang in Berlin:
Theologische Perspektiven von Nikolaus Schneider zur Gedenkkultur
25. Juni 2014

Das Jahr 2014 steht im Zeichen historischen Gedenkens. Den diesjährigen Johannisempfang der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) nahm EKD-Ratsvorsitzender Nikolaus Schneider zum Anlass, die Kultur historischen Gedenkens in theologischer Perspektive zu betrachten. Rund 800 Gäste, unter ihnen Bundeskanzlerin Angela Merkel sowie zahlreiche weitere Spitzenvertreter aus Politik, Kirchen, Kultur und Wirtschaft, waren am Mittwochabend (25. Juni 2014) der Einladung der EKD in die Französische Friedrichstadtkirche am Berliner Gendarmenmarkt gefolgt.

Zum Gedenkjahr 2014 hielt Nikolaus Schneider fest: „Vor 100 Jahren brach der Erste Weltkrieg aus. Vor 75 Jahren begann Deutschland mit dem Überfall auf Polen den Zweiten Weltkrieg. Vor 25 Jahren brachte die friedliche Revolution in der DDR erst die Mauer und dann den Staat zum Einsturz. Und für unsere Kirche von besonderer Bedeutung: Vor 80 Jahren formulierten mutige Theologen die Barmer Theologische Erklärung als Bekenntnis und Protest gegen den nationalsozialistischen Ungeist der Deutschen Christen. Schon diese vier Gedenkdaten machen deutlich, dass unser Gedenken die Grenzen und Abgründe des Menschen wie auch seine Größe, seinen Mut und biblisch ausgedrückt seine Gott-Ebenbildlichkeit in den Blick nehmen muss.“ Grenzen und Größe, Abgründe und Heroisches gehörten zum Menschsein, so Schneider weiter, und so müsse unsere Gedenkkultur immer auch eine „Kultur der Gewissensbildung“ befördern, wenn sie auf Zukunftsverantwortung ziele.

EKD-Chef Schneider: „Gedenken zielt auf Zukunft. Und das gilt nicht allein für uns als Individuen. Das gilt auch für die Identität von Gemeinschaften, etwa für unsere Kirche, für unser Land und für Europa. Die Gegenwart und die Zukunft dieser Erde brauchen identitätsstarke und verantwortungsbewusste Gemeinschaften. Gerade auch deshalb brauchen sie eine zukunftsweisende Gedenkkultur.“ Im Spannungsfeld zwischen Zeugenschaft und Erinnerung entfalte sich die eigene Perspektive evangelischer Theologie und Kirche zur Kultur des Gedenkens. Schneider unterstrich: „Die Geschichte Gottes mit den Menschen ist für uns kein Mythos, keine abstrakte Idee und keine philosophische Grundannahme. Wir bezeugen Gott als den in die Welt gekommenen und Geschichte machenden Gott. Evangelische Theologie und Kirche wollen beides: Parteinahme für Gottes Geschichte und kritische Prüfung auf dem jeweiligen Stand historischer Einsicht. Zeugenschaft für Jesus Christus und zugleich Entmythologisierung der biblischen Weltsicht. Denn es ist exakt diese doppelte Bewegung, diese zugleich parteiliche und selbstkritische Erinnerungskultur, die eine zukunftsweisende und verantwortliche Gewissensbildung eröffnet.“ Im Leben, Sterben und Auferstehen Jesu Christi verdichte sich Gottes Gedenken an seine Menschen.

Schneider hob zum Schluss seiner Rede hervor: „Der Glaube an den Auferstandenen ermöglicht unserem theologischen und unserem historischen Gedenken in aller Bruchstückhaftigkeit den Horizont der Ewigkeit. Wenn göttliches und menschliches Gedenken sich im Horizont der Ewigkeit verschränken, dann wird deutlich, dass Gedenken im tiefsten Sinne ein Erinnern für die Zukunft ist.“
Hannover, 25. Juni 2014
Pressestelle der EKD Dr. Michael Brinkmann


Dr. h.c. Nikolaus Schneider Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD)
 

"Gedenken – Erinnerungen für die Zukunft"

Rede beim Johannisempfang 2014 am 25. Juni 2014 in Berlin


1.                           Einleitung: Gedenken erbaut und stärkt Identität

„Das Leben wird rückwärts verstanden, aber vorwärts gelebt.“ Der dänische Philosoph Sören Kierkegaard macht uns mit dieser Einsicht klar: Der Blick zurück ist notwendig, manchmal sogar im Wortsinn „Not-wendend“. Er ist keine intellektuelle Spielerei. Der Blick zurück bildet und stärkt menschliche Identität. Der Blick zurück hilft auf dem Weg nach vorn.

Beim Gedenken geht es also nicht nur um ein Rezipieren von Vergangenem. Gedenken hat das Potential zur Konstruktion, zum Neu-Schaffen. Gedenken zielt auf Zukunft. Und das gilt nicht allein für uns als Individuen. Das gilt auch für die Identität von Gemeinschaften, etwa für unsere Kirche, für unser Land und für Europa. Die Gegenwart und die Zukunft dieser Erde brauchen identitätsstarke und verantwortungsbewusste Gemeinschaften. Gerade auch deshalb brauchen sie eine zukunftsweisende Gedenkkultur.

Lassen Sie mich im Folgenden mit theologischer Perspektive einige Akzente zum Gedenkjahr 2014 setzen mit dem programmatischen Fokus: „Gedenken – Erinnerungen für die Zukunft“.

 
2.                           Biblisches Gedenken ist Vergegenwärtigung

Erinnern und Gedenken ist eine unverzichtbare Eigentümlichkeit des jüdischen und christlichen Glaubens. Vergegenwärtigte Erinnerung an Gottes heilsames Handeln ist konstitutiv für die jüdische Gemeinschaft und für die christliche Kirche. Das Gedenken an die Erfahrungen und Zeugnisse unserer „Väter und Mütter im Glauben“ schafft eine Generationen und Kulturkreise verbindende Identität. Und es vermag Widerstandskräfte zu wecken, Hoffnungen zu stärken und Gott-Vertrauen zu erneuern – gerade in schwierigen Zeiten.

So gehört zur Liturgie des jüdischen Erntefestes die Vergegenwärtigung des alten Credos aus dem 5. Buch Mose:

„Mein Vater war ein Aramäer, dem Umkommen nahe, und zog hinab nach Ägypten und war dort ein Fremdling mit wenigen Leuten und wurde dort ein großes und zahlreiches Volk. Aber die Ägypter behandelten uns schlecht und bedrückten uns und legten uns einen harten Dienst auf. Da schrien wir zu dem HERRN, dem Gott unserer Väter. Und der HERR erhörte unser Schreien und sah unser Elend, unsere Angst und Not und führte uns aus Ägypten mit mächtiger Hand und ausgerecktem Arm…“ (5. Mose 26, 5-8a)

Der Dank an Gott für die Fruchtbarkeit der Erde wird damit verbunden, geschichtliche Ereignisse zu rezipieren und die für Israel grundlegenden Heilstaten Gottes zu vergegen- wärtigen. Und zwar so, dass jeder und jede Einzelne sich mit dieser Heilsgeschichte identifiziert und sie zur eigenen Geschichte macht: Mein Vater war ein umherirrender Aramäer…" Durch die Jahrhunderte hindurch – durch Exil, Verlust der Staatlichkeit, Zerstreuung unter die Völker und selbst durch die Shoa – stiften und stärken die theologische Deutung und die existentielle Vergegenwärtigung von geschichtlichen Ereignissen die Identität Israels.

Durch die theologische Deutung, also durch den Bezug auf Gott, erhält das kulturelle Gedächtnis von Gemeinschaften eine wirkmächtige Tiefendimension. Im Glauben an Gott,

„der sein Wort und seine Treue hält ewiglich und der nicht loslässt das Werk seiner Hände“, wird die Geschichte wahrnehmbar als ein Raum der Nähe Gottes, seines Mitgehens, seines Begleitens in Zeit und Ewigkeit. Das Erinnerte wird im Wortsinn zum „Re-präsent-anten“ der Beziehungsgeschichte Gottes mit seinen Menschen. Also zu einer gegenwärtig wirksamen Erscheinungsform für irdische Gotteserfahrungen. Und im Vollzug des Erinnerns werden Kopf und Herz der Gedenkenden geöffnet für zukünftige Erfahrungen von Gottes Gegenwart und Geleit.

In diesem theologischen Sinn des Gedenkens feiert unsere Kirche das Heilige Abendmahl. Auf sakramentale Weise erinnert und vergegenwärtigt die Gemeinde den Kreuzestod Christi als eine Heilsgeschichte zu unserem je eigenen Heil: „Nimm hin und iss, Christi Leib für dich gegeben. Nimm hin und trink, Christi Blut für dich vergossen.“

 Mit der existentiellen Vergegenwärtigung der Passionsgeschichte Christi wird Christinnen und Christen eine Zukunftsperspektive eröffnet, die weit über das Diesseits hinausgreift. Die schon hier und jetzt unser Denken, Reden und Handeln mit nachhaltiger Hoffnung erfüllt. Deshalb heißt es in unserer Abendmahlsliturgie: „Deinen Tod, o Herr, verkündigen wir und deine Auferstehung preisen wir, bis du kommst in Herrlichkeit.“

 „Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung“ – so steht es auf einer Tafel der Holocaust- Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem – ein Zitat des jüdischen Gelehrten Baal Shem Tov. Bei dem Hebräischen Wort „Sachor“, das hier mit „Erinnerung“ übersetzt wird, geht es nicht um ein belangloses Zurückblicken. „Sachor“ beschreibt in der Hebräischen Bibel ein Gedenken, das sich selber in ein Geschehen mit hineinziehen lässt. Ein Gedenken, das aus Geschehenem neue Hoffnung für die Zukunft schöpft. Das ist das Geheimnis der Erlösung. Biblisches Gedenken bedeutet also eine existentielle Vergegenwärtigung von theologisch gedeuteter Geschichte. Biblisches Gedenken stärkt dadurch Menschen in der jeweiligen Gegenwart und ermutigt sie, Verantwortung für die Zukunft zu übernehmen.


3.                           Gedenken braucht selbstkritische Zeugenschaft

Gedenken in diesem zukunftsweisenden Sinne braucht und verdient Zeuginnen und Zeugen, die eine Erinnerungsgemeinschaft bilden. Eine solche Zeugenschaft ist parteilich. Sie memoriert und inszeniert identitätsstiftende Erinnerung für ihre Gemeinschaft.

Parteiliche Zeugenschaft ist aber auch gefährdete Erinnerung. Sie ist missbrauchbar und benutzbar.  Zeuginnen  und  Zeugen können  Geschichte  falsch  oder  falsche  Geschichten erzählen. Sie können 'falsche Zeugen' werden, aus Dummheit, mit Berechnung, ohne Sinn und Verstand.

Deswegen braucht die Zeugenschaft von Geschichte die Unterscheidung von Gedenken und historischer Analyse. Historische Urteile sind hypothetische Urteile ohne Anspruch auf letzte Gewissheit. Vergangenes wird zuerst in seiner Fremdheit sichtbar gemacht. Geschichtsmythen werden entmythologisiert, Helden kritisch hinterfragt.

Ein „garstig, breiter Graben, über den wir nicht kommen“ – wie Gotthold Ephraim Lessing klassisch formulierte – tritt zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Und je schärfer die Optik historischer Forschungen eingestellt wird, desto bewusster wird der garstige Graben. Das Geschehene verliert in der historischen Betrachtung seinen unmittelbaren Anredecharakter. Es büßt seine auf die Existenz bzw. das Gewissen zielenden Potentiale ein.

Aber auch dieser historisch-kritische Blick auf die Geschichte ist letztlich eine Re- Konstruktion. Auch er ist von Interessen geleitet und muss mit „blinden Flecken“ zurechtkommen. Denn das Ideal des 19. Jahrhunderts, die Geschichte so zu erzählen, wie sie wirklich war, ist zerbrochen. Auch deswegen gibt es immer wieder einen anregenden Historikerstreit, in dem historisch-analytisch um angemessene Deutungen gerungen wird.

Entscheidend für unsere evangelische Theologie und Kirche ist die Lernerfahrung: Die Geschichte, die wir bezeugen, kann ruhig dem Feuer der historischen Kritik ausgesetzt werden. Das hält sie aus. Die Geschichte Gottes mit den Menschen ist für uns kein Mythos, keine abstrakte Idee und keine philosophische Grundannahme. Wir bezeugen Gott als den in die Welt gekommenen und Geschichte machenden Gott.

Evangelische Theologie und Kirche wollen beides: Parteinahme für Gottes Geschichte und kritische Prüfung auf dem jeweiligen Stand historischer Einsicht. Zeugenschaft für Jesus Christus und zugleich Entmythologisierung der biblischen Weltsicht. Denn es ist exakt diese doppelte Bewegung, diese zugleich parteiliche und selbstkritische Erinnerungskultur, die eine zukunftsweisende und verantwortliche Gewissensbildung eröffnet.


4.                           Erinnerungen für die Zukunft am Beispiel von Gedenkdaten dieses Jahres

In diesem  Jahr stellen wir  uns einigen 'Bruchstellen' unserer  Geschichte  und manchen Ambivalenzen in diesen historischen Ereignissen. Ich nenne hier vier uns bewegende Gedenkanlässe:

Ø     Vor 100 Jahren brach der 1. Weltkrieg aus.

Ø     Vor 75 Jahren begann Deutschland mit dem Überfall auf Polen den 2. Weltkrieg.

Ø     Vor 25 Jahren brachte die friedliche Revolution in der DDR erst die Mauer und dann den Staat zum Einsturz.

Ø     Und für unsere Kirche von besonderer Bedeutung: Vor 80 Jahren formulierten mutige Theologen die Barmer Theologische Erklärung als Bekenntnis und Protest gegen den nationalsozialistischen Ungeist der Deutschen Christen.

Schon diese vier Gedenkdaten machen deutlich, dass unser Gedenken die Grenzen und Abgründe des Menschen wie auch seine Größe, seinen Mut und – biblisch ausgedrückt – seine Gott-Ebenbildlichkeit in den Blick nehmen muss. Weil beides – Grenzen und Größe, Abgründe und Heroisches – zu unserem Menschsein gehört, muss unsere Gedenkkultur immer auch eine Kultur der Gewissensbildung sein, wenn sie auf Zukunftsverantwortung zielt.

Wir müssen uns erinnern und erinnern lassen, wie schnell Selbstsucht, Dummheit, Verantwortungslosigkeit und ideologischer Wahn ein gerechtes Zusammenleben und das Miteinander der Staaten gefährden.

Das Gedenken an die beiden Weltkriege – vor allem auch unsere historische Schuld an der Shoa – stellt uns immer wieder neu vor die Aufgaben:

Ø     Wie können wir Zerstörung- und Tod-bringende Folgen verblendeter Nationalismen so vergegenwärtigen, dass Menschen sich mit Herz und Verstand für das Friedensprojekt Europa engagieren?

Ø     Wie können wir  die unfassbaren Grausamkeiten des Zivilisationsabbruchs in beiden Weltkriegen so ins Gedächtnis rufen, dass unser Gewissen geschärft und unsere Verantwortlichkeit geweckt wird im Blick auf alle gegenwärtigen Krisenregionen unserer Erde?

Christenmenschen   und   Kirchenleute   ließen   sich   bei   den   beiden   Weltkriegen   des 20. Jahrhunderts mitreißen vom Kriegstaumel, haben ihn sogar selbst angefacht und befeuert. Wie konnte die biblische Friedensbotschaft immer wieder auch von Theologen bis zur Unkenntlichkeit verzerrt werden? Diese Frage bleibt innerhalb und außerhalb unserer Kirche für jedes Gedenken an Kriege, Kriegsursachen und Kriegsschuld aktuell.

Vieles ist seit dem Ausbruch des ersten und zweiten Weltkriegs aber auch geschehen an Einsicht, Umkehr und Versöhnung. Und dennoch erfüllt Kriegslärm unsere Welt auch in unseren Tagen. Noch immer und immer wieder neu suchen Menschen mit militärischer oder terroristischer Gewalt eigene Interessen durchzusetzen und Widerständiges  zu unterdrücken. Noch immer und immer wieder neu zerstören Menschen die Würde und die Existenz anderer Menschen.

In der vergangenen Woche habe ich das erlebt. Eine kleine Delegation der Evangelischen Kirche in Deutschland hat den Sudan und den Südsudan besucht. Wir sind dabei zutiefst traumatisierten Menschen begegnet. Auch Frauen, die schwersten Gewalttaten ausgesetzt sind und dennoch familiäre und gesellschaftliche Verantwortung übernehmen. Sie sind Hoffnungsträgerinnen für künftigen Frieden. Menschen im Sudan und Südsudan erleben sich allzu oft als 'forgotten people'. Sie richten ihre Hoffnung auf wachsame Augen der Weltöffentlichkeit. Als eine Form des Gedenkens sollte unsere Pastoralreise diese Menschen ermutigen.

Ehrliches und selbstkritisches Gedenken an die beiden Weltkriege bewahrt uns Heutige vor Überheblichkeit und schenkt  uns zugleich wachsame Augen für  die Krisenregionen der Gegenwart. Es bewahrt uns vor blauäugigen Fortschrittstheorien und stärkt zugleich unsere tätige Verantwortung für die Deeskalation und Befriedung von Konflikten.

Gott sei Dank gibt es in diesem Jahr aber auch Daten, die Mut und Größe von Menschen in den Fokus unseres Gedenkens stellen:


Ø      9. November 1989:

Was mit mutigen kleinen Alltagsprotesten von DDR-Bürgern und -Bürgerinnen begann, sich über Umwelt- und Friedensgruppen fortsetzte, mit den Montagsgebeten und Montagsdemonstrationen eine öffentliche Form fand, führte schließlich zur Öffnung der Mauer. Wie viel Mut, wie viel Zivilcourage, wie viel menschliche Größe – ja, auch wie viel Gottvertrauen haben dazu beigetragen!

Was für ein Ereignis, das viele von uns vor 25 Jahren miterlebt haben – direkt oder indirekt, als Akteure oder als Zuschauende, als politisch oder kirchlich engagierte Menschen. Von ganz unterschiedlichen Standpunkten aus und mit ganz unterschiedlichen Perspektiven blicken wir jetzt darauf zurück. Uns eint aber die Hoffnung, dass das Gedenken des Mauerfalls auch in Zukunft eine Kraftquelle für unsere Zivilgesellschaft bleibt.


Ø      31. Mai 1934 Die Verabschiedung der Barmer Theologischen Erklärung:

Dieses  Ereignis  erfüllt  Christinnen  und  Christen  mit  Dankbarkeit  und  Demut  zugleich:

Mit Dankbarkeit, weil über die konfessionellen Grenzen von reformierter, lutherischer und unierter Kirche hinweg 139 Synodale – darunter eine Frau! – den Mut fanden, dem NS- Ungeist der Deutschen Christen in ihrer Kirche zu widersprechen. In sechs biblisch begründeten und christologisch konzentrierten Thesen wagten sie einen klaren  Protest gegen den Versuch, die evangelische Kirche in die Gewalt und die Logik des totalitären nationalsozialistischen Staates zu zwingen.

Mit Demut, weil eine 'siebte These' fehlt. In der Erklärung von Barmen findet sich kein Wort der Solidarität zum Schicksal der bedrohten Jüdinnen und Juden. Karl Barth, der die Barmer Erklärung ganz wesentlich mit verfasst hat, bezeichnete das später selbst als ein verhängnisvolles Versäumnis.

Der Blick zurück auf Barmen soll unser Gewissen und unsere Verantwortlichkeit schärfen. Wo sind wir heute gefordert, Gott mehr zu gehorchen als den Menschen? Dieser Frage haben wir uns angesichts der heutigen politischen Herausforderungen zu stellen – etwa im Blick auf die Flüchtlingspolitik.


5.  Theologische   Schlussgedanken:   Gottes   Gedenken   an   uns   eröffnet   unserem Gedenken den Horizont der Ewigkeit

„Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?“ (Psalm 8,5a) –, fragte einst ein Psalmbeter. Und er erinnert im Anschluss an seine Frage dankbar daran, dass Gott uns Menschen beziehungs- und verantwortungsfähig geschaffen hat.

Gott „gedenkt“ des Menschen. Das bedeutet: Gott setzt sich in Beziehung zu uns Menschen. Er nimmt sich der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft des Menschen an.

Gott „gedenkt“ des Menschen. Das wurde und wird für unsere Kirche in ganz einmaliger Weise deutlich und erfahrbar am Leben, Sterben und Auferstehen Jesu Christi. In unserem Gedenken an Christi Worte und Taten wird für uns wirksam: Gott lässt sich hineinziehen in alle Fehler, alles Versagen und alles schuldhafte Handeln unserer Vergangenheit. Gott lässt sich hineinziehen in unsere Hoffnungen und Sehnsüchte für die Zukunft. Er verheißt uns eine Zukunft über den Tod hinaus.

Gott "gedenkt" seiner Menschen. Er lässt sich hineinziehen in unser Leben und in unsere Welt. Deshalb wollen auch wir eine Kultur des Gedenkens pflegen, das sich mit hineinziehen lässt in Geschehenes. Und das aus der Erinnerung an Geschehenes Verantwortung für eine heilsame und lebensdienliche Gegenwart und Zukunft übernimmt.

Gibt es eigentlich so etwas wie eine 'protestantische Gedenkkultur'? Ich denke, ja. Ja, wenn damit gemeint ist, was Dietrich Bonhoeffer in einem seiner amerikanischen Vorträge sagte:

„So sehen wir die Geschichte nur durch Christus … Allein durch Christus sehen wir die Welt in Gottes Händen.“

 Der Glaube an den Auferstandenen ermöglicht unserem theologischen und unserem historischen Gedenken in aller Bruchstückhaftigkeit den Horizont der Ewigkeit. Wenn göttliches und menschliches Gedenken sich im Horizont der Ewigkeit verschränken, dann wird deutlich, dass Gedenken im tiefsten Sinne ein Erinnern für die Zukunft ist.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!