2015: Sehenden Auges in die Katastrophe

Umgang mit Geschichte
Quelle:  Süddeutsche Zeitung, 14.08.2015

Sehenden Auges in die Katastrophe

Von Christoph Neidhart

Wichtiger als die Frage, warum Japan vor siebzig Jahren kapitulierte und der Zweite Weltkrieg damit auch im Pazifik endete, findet die Historikerin Eri Hotta die Frage nach dem Kriegsbeginn: Wie konnte es überhaupt so weit kommen? Wie ist Japan in einen Krieg gegen die USA geraten, von dem die Regierung und das Militär vorab wussten, dass er nicht zu gewinnen war?

In Japan werde diese Frage kaum gestellt, meint Hotta, ganz so, als sei der Krieg unvermeidbar gewesen. Mit ihrem Buch "Japan 1941: Countdown to Infamy" hat die in den USA lebende Japanerin diese Lücke gefüllt. In Japan gelte der Krieg "entweder als ein heroischer und selbstloser Kampf gegen den arroganten Westen, der Japan gleichsam aufgezwungen wurde", oder als Folge "eines fehlerhaften Uhrwerks, das es einer Gruppe Militaristen erlaubte, die Macht an sich zu reißen", sagte sie jüngst auf einer Veranstaltung in Tokio. Einige Nationalisten gehen noch weiter: Ende November 1941 hatte Präsident Franklin D. Roosevelt gesagt, man müsse die Japaner dazu bringen, den ersten Schuss abzufeuern. Daraus wollen Nationalisten schließen, die USA hätten Japan in eine Falle gelockt. Demnach wäre Japan schon bei Kriegsausbruch ein Opfer gewesen. Hotta hält dem entgegen, Roosevelt habe mit einer Militäroffensive Tokios gerechnet, aber einen Überfall vom Ausmaß Pearl Harbors habe sich in Washington niemand vorstellen können. Erwartet wurde ein Angriff auf die Philippinen, damals eine amerikanische Kolonie. Zudem machte Roosevelt die Bemerkung vom ersten Schuss, als Pearl Harbor bereits beschlossen war. Tokio hatte sich selbst im Sommer 1941 eine Frist für eine diplomatische Lösung des Konflikts mit Washington gesetzt, die Ende November ablief. Die USA wussten davon nichts.

1941 führte Japan schon seit zehn Jahren Krieg, seine Armee war 1931 in Nordost-China eingefallen. Sie machte die Mandschurei zum Marionettenstaat Tokios und weitete ihre Aggressionen 1937 auf ganz Ost-China aus. 1940 besetzte Japan den Norden Vietnams. Daraufhin verhängte Washington Sanktionen gegen Tokio, unter anderem ein Öl-Embargo. Anders als in China, wo das Militär ohne Zustimmung der zivilen Führung losschlug, sei der Krieg gegen die USA "eine gemeinsame, bewusste Entscheidung" von etwa zwölf Top-Ministern, Generälen und des Kaisers gewesen, betont Hotta. In Tokio regierte kein Diktator. "Japan hatte selbst in den letzten acht Monaten vor Kriegsausbruch gute Gelegenheiten, einen Großkrieg zu vermeiden." Insbesondere, als Hitler im Juni 1941 die Sowjetunion überfiel. Das hätte Japan zum Anlass nehmen können, sein Bündnis mit den Nazis aufzulösen, zumal es mit Moskau Neutralität vereinbart hatte. Die USA wären dafür sogar zu Konzessionen bereit gewesen. Doch Tokio zögerte zu lange.

"Man würde annehmen, dass ein Staat, der beschließt, einen Krieg zu beginnen, sich zumindest gute Chancen ausrechnet, ihn auch zu gewinnen", sagt Hotta. Damals aber sei keiner der Beteiligten zuversichtlich gewesen. Der später als Kriegsverbrecher hingerichtete Premier Hideki Tōjō schon gar nicht. Doch keiner wollte Schwäche zeigen. Jeder schob die undankbare Aufgabe, klar auszusprechen, dass Japan sich auf eine Katastrophe zubewege, den anderen zu. Und alle hofften, der Kaiser werde ein Machtwort sprechen. "Zusätzlich verdünnt war die Verantwortung durch multiple, wechselnde Loyalitäten und Institutionen", konstatiert Hotta. Die Minister vertraten verschiedenen Leuten gegenüber diametral entgegengesetzte Meinungen. Als eigentliche Kriegstreiber identifiziert Hotta subalterne Strategen; die Entscheidungen aber hätten ihre Bosse getroffen, die freilich ihren Untergebenen gegenüber ihr Gesicht nicht verlieren wollten. Der notorische Hang der Japaner, oberflächlich harmonisch, also einstimmig zu entscheiden, machte jeden Widerspruch unmöglich.

Der japanische Politologe Masao Maruyama notierte schon 1949, die Minister und Generäle hätten sich die Augen zugehalten und den Krieg vorangetrieben. "Wenn wir fragen, haben sie den Krieg gewollt?, lautet die Antwort Ja. Und wenn wir fragen, wollten sie den Krieg vermeiden?, ist die Antwort auch Ja. Sie wollten den Krieg, versuchten aber, ihn zu vermeiden; sie wollten ihn vermeiden, wählten aber absichtlich den Weg in den Krieg." Die Egozentriker, die Japan ins Verderben führten, geben in Hottas Buch ein jämmerliches Bild selbstherrlicher, überforderter Dorfschulzen ab: allen voran Yosuke Matsuoka, bis wenige Wochen vor Pearl Harbor Außenminister. Er hielt sich für ein Genie, weil er das Bündnis mit Hitler und den Pakt mit Stalin ausgehandelt hatte. Seine Kollegen beschwor er, man müsse dem Amerikaner ins Gesicht schlagen, sonst nehme er einen nicht ernst. Er wisse Bescheid, er hatte in Portland studiert und hielt sich für einen Freund der USA. Krieg wollte auch er nicht. Oder Prinz Fumimaro Konoe, bis Oktober 1941 Premierminister, auch er ein Kriegstreiber wider Willen. Hotta sagt, er habe nichts getan, wenn Taten verlangt waren, sei aber hyperaktiv geworden, wenn Zurückhaltung geboten war. Nach der gewonnenen Schlacht von Pearl Harbor soll er gesagt haben: "Ich sehe eine fürchterliche Niederlage auf uns zukommen."


2345 US-Soldaten
starben dem Zentrum für Militärgeschichte der US Army (CMH) zufolge beim japanischen Angriff auf Pearl Harbour am 7. Dezember 1941. Die Zahl ist umstritten, Schätzungen bewegen sich zwischen 2000 und 2500 Toten. Der Luftangriff zielte auf die US-Pazifikflotte, die in Pearl Harbour auf Hawaii ankerte. 18 Schiffe und ein großer Teil der Luftflotte der USA wurden zerstört, der Angriff führte zum Kriegseintritt der USA.


Christoph Neidhart
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Christoph Neidhart ist der Korrespondent der Süddeutschen Zeitung in Tokio, wo er seit neun Jahren lebt. Zuvor war er vier Jahre "Visiting Scholar" am Russland-Institut der Harvard University und fast acht Jahre Korrespondent in Moskau. Neidhart hat mehrere Bücher veröffentlicht, zuletzt "Museum des Lichts, Petersburger Lieben" und "Die Nudel, eine Kulturgeschichte mit Biss".