Studientagung 2012: Meditation L. Drescher

1.-3. Oktober 2012 in der Heimvolkshochschule am Seddiner See, Brandenburg

Ostasien Studientagung der DOAM
KOREA  -  Gesellschaft, Religionen, Kirche
1. – 3. Oktober 2012 am Seddiner See (Brandenburg)

 

Lutz Drescher

Minjungtheologische Meditation

 

„Minjung-Theologie des Volkes Gottes in Korea" so lautet der Titel eines von Jürgen Moltmann 1984 herausgegebenen Bandes. Das Minjung, das waren die Menschen in den Armenvierteln, die Arbeiter und Bauern aber auch die mundtot gemachten Intellektuellen und alle die, die unter der damaligen Militärdiktatur zu leiden hatten. Auch wenn die Minjungtheologie in einem ganz bestimmten Kontext, nämlich in Korea zur Zeit der Diktatur entstanden ist, so gehen dennoch von ihr bleibend Impulse aus und sie bleibt theologisch und historisch – nicht im musealen Sinn sondern im Sinn ihrer Wirkung - bedeutend.

Ich selbst bin in meiner Zeit in Korea von 1987 – 1995 dem Minjung hautnah verbunden gewesen:

- während der großen Demonstrationen 1987 die zum Ende der Militärdiktatur geführt haben –übrigens zusammen mit dem Ende der Apartheid und dem Fall der Mauer eine der großen Hoffnungsgeschichten des vergangenen Jahrhunderts, die alle zeigen, dass es möglich ist, Gewaltherrschaft unblutig zu überwinden.

- und dann während der mehr als fünf Jahre, in denen ich in einer Minjunggemeinde im Schweinedorf wie es wörtlich hieß (Duejí Maul/Yangdongdanji), in einem Armenviertel mitgearbeitet habe.

Der Aufstand, (die Auferstehung?) des Minjung, die damit verbundenen Leidens- und Hoffnungsgeschichten, die Lebensgeschichten der Menschen in diesem Armenviertel, dies war der Kontext in dem ich meine Bibel neu las... gleichsam mit den Augen der anderen mit den Augen der Menschen, mit denen ich verbunden war. Dies – „die Bibel lesen mit den Augen der anderen" - ist nicht nur ein Titel eines Programms, das wir als EMS immer wieder einmal bewusst durchführen, es ist für mich eine ganz wesentliche Errungenschaften der ökumenischen Bewegung. Bis heute mache ich immer wieder die beglückende Erfahrung, wie sich die Bibel in einem anderen Kontext gelesen neu erschließt, in anderen Tiefendimensionen erfasst werden kann, ihre befreiende Kraft neu entfaltet.

Ein erstes Beispiel: fast alle meine engen Freunde in Korea haben die Erfahrung gemacht für kürzere oder längere Zeit inhaftiert gewesen zu sein. „Graduated from Prison – das Examen im Gefängnis abgelegt" so haben die Theologen unter ihnen sich manchmal ausgedrückt – Von einer Taufe im Leiden spricht Jesus (Mk. 10,39). Erst im Kontakt mit ihnen ist mir bewusst geworden, wie viele biblische Geschichten angefangen bei den Propheten im Gefängnis spielen. Ich bin überzeugt, wir werden die Bibel anders lesen und werden anders predigen, wenn wir uns bewusst machen, dass viele der Briefe des Paulus im Gefängnis entstanden sind.

Ein Aufenthalt im Gefängnis 1975 war auch für den in Heidelberg promovierten Neutestamentler Prof . AHN Byung Mu (D. Schweizer) ein einschneidendes Erlebnis und hat zu einer relectura – zu einem, neuen Lesen der Bibel vor allem des Markusevangeliums geführt. Ich hatte das Glück ihm in den Jahren in Korea regelmäßig zu begegnen und einige der Worte, die er gesagt hat, sind mir unvergesslich, gerade auch wegen der verfremdeten Sprache. So hat er einmal gesagt: „Ich war mein ganzes Leben lang „gierig" auf Jesus". „Neugierig" wollte er sagen, aber gerade das krude „gierig" macht deutlich, dass es eben nicht (nur) um intellektuelle Neugier oder akademisches Interesse ging, sondern um existentiell gelebten Glauben. Ein anders mal sagte er: „Für Euch im Westen ist Jesus oft sonderbar", Im Verlauf des Gesprächs erschloss es sich dann, dass er darauf verweisen will, dass es uns oft schwer fällt, Gott und Jesus mit der ge- und erlebten Wirklichkeit in Beziehung zu sehn, wir sondern sie ab. Wir haben uns ein Bild eines harmlosen Jesus zu Recht gelegt, der „niemandem weh tut", aber so auch ein wenig langweilig ist. Wir lassen ihn mit seinen Ecken und Kanten nicht richtig an uns heran. Wir nehmen die Herausforderung nicht an, vor die er uns stellt, aber so erfahren wir auch nicht den Trost, den er schenken will. Um es in einem Wortspiel zu sagen: Er ist eine „Zumutung" und würden wir diese annehmen, würden wir Mut gewinnen. Wir aber leben so als sei das Jesusereignis nur (museale) Vergangenheit, statt gegenwärtiger Wirklichkeit. Ist es nicht so: Wenn wir Jesus in den Himmel versetzen, dann bliebt uns nur eine gottlose Erde. .

Aber wenn das nicht so ist - wo wirkt Gott? Wo ist der Auferstandene als der Lebendige zu finden? Wo findet das Jesusereignis heute statt?

Ahn ist über Bibelworte gestolpert, die wir sonst leicht überlesen:

Ganz am Schluss des Markusevangeliums wird beschrieben, wie die Frauen am Ostermorgen auf den Friedhof gehen und dort das leere Grab entdecken. Dort heißt es:

Markus 16, 5. Und sie gingen hinein in das Grab und sahen einen Jüngling zur rechten Hand sitzen, der hatte ein langes weißes Gewand an, und sie entsetzten sich.  6 Er aber sprach zu ihnen: Entsetzt euch nicht! Ihr sucht Jesus von Nazareth, den Gekreuzigten. Er ist auferstanden, er ist nicht hier. Siehe da die Stätte, wo sie ihn hinlegten.  7 Geht aber hin und sagt seinen Jüngern und Petrus, dass er vor euch hingehen wird nach Galiläa; dort werdet ihr ihn sehen, wie er euch gesagt hat.  8 Und sie gingen hinaus und flohen von dem Grab; denn Zittern und Entsetzen hatte sie ergriffen. Und sie sagten niemandem etwas; denn sie fürchteten sich.

„Sagt, dass er vor euch hingehen wird nach Galiläa; dort werdet ihr ihn sehen". So heißt es hier. Was hat es mit Galiläa auf sich als dem Ort, an dem der Auferstandene zu finden ist?

„galil ha-gojim = „Bezirk, Kreis der Heiden" so heißt es auf hebräisch. In der Bibel selbst ist in Mt. 4, 15 f vom „heidnischen Galiläa" die Rede, wo „das Volk in Finsternis sitzt und am Ort und im Schatten des Todes". Galiläa, das ist die Peripherie weit oben im Norden jenseits noch von Samaria, weit weg vom Zentrum der Macht und der Rechtgläubigkeit. Es ist der Ort, an dem das unterdrückte, ausgebeutete, marginalisierte kurzum das leidende Minjung (Griech. Ochlos) lebt und zugleich der Ort, von dem die meisten Befreiungsbewegungen ausgegangen sind. (während der 300 Jahre von der den Makkabäern bis zum Ende der jüdischen Unabhängigkeit gab es nicht weniger als 62 Aufstände, 61 gingen von Galiläa aus; Pinchas Lapide: „Und er predigte... " 1980). Galiläa, das war für Ahn die Arbeiterviertel, die Armenviertel, die Bauerndörfer und nicht zuletzt die Gefängnisse, alles Orte, an denen das ausgebeutete marginalisierte, unterdrückte Minjung lebte. Dort ist der Auferstandene zu finden Dort wo Menschen leiden, sich nach Erlösung und Befreiung sehnen und an Veränderungen arbeiten, dort ist auch der Auferstandene gegenwärtig. Und er ist es immer zuerst als der Mitleidende. „In Jesus wird der Schmerz und die Mitleidenschaftlichkeit Gottes offenbar" so ähnlich hat es Ahn einmal formuliert. In Jesus offenbaren sich die Nähe Gottes zu den Leidenden und seine Solidarität mit ihnen. Und genau an dieser Stelle ist die Minjungtheologie zutiefst protestantisch. Sie ist zuallererst eine befreiende „Theologie des Kreuzes" und verweist uns auf die unaufgebbare Option Gottes für die Leidenden. Da wird nicht gleich in den Himmel gesprungen und auch der Weg zur Befreiung ist steinig. Da gibt es keinen falschen Trost, keine billige Vertröstung.

Aber gerade das ist Trost, dass Gott es aushält, uns aushält, menschliches Leiden mitleidet, nahe bleibt. Er ist und bleibt Verbündeter und gibt diesen Bund nicht auf, schließlich ist er ja mit seinem Leben dafür eingetreten. Undgleichzeitig gilt: Er ist und bleibt der verborgene Gott.

Ahn blieb beim Markusevangelium und bei seinem ursprünglichen Schluss, an dem von Zittern und Entsetzen und Furcht die Rede ist. Es war so etwas wie „nackter Glaube", aus dem heraus er gelebt hat, ein Glaube, der vertraut auch wenn er nicht sieht. Es passt dazu, dass er nicht mehr miterlebt hat, dass vier Jahre nach seinem Tod sein enger Freund und Weggefährte, der spätere Friedensnobelpreisträger KIM Dae Jung die Präsidentschaftswahlen gewann und damit die Transformation Koreas von einer autoritär geführten menschenverachtenden Militärdiktatur zu einer Demokratie einen ersten Höhepunkt erreicht hat.

Es war das Minjung, das diese Veränderung ausgelöst hat. Es waren die kleinen Leute, die sich aus der Erstarrung lösten und in Bewegung gesetzt haben; es waren die Frauen, die ihr Schweigen brachen und manchmal ihre Stimme sogar zum Schrei erhoben. Ihr Schmerz hat sich in Lebensenergie verwandelt und ganz innerweltlich wird hier etwas deutlich von dem Geheimnis von Tod und Auferstehung. Als „Jesusereignis" so hat Ahn dies bezeichnet.

Ich breche hier ab.... Und ich hoffe, es ist deutlich geworden, dass die Minjungtheologie, auch wenn sie in einer ganz bestimmten historischen Situation entstanden ist, dennoch auch heute noch herausfordernd ist und zu uns spricht.


Lutz Drescher, EMS, drescher@ems-online.org.
Beitrag zur DOAM Studientagung „Korea - Gesellschaft, Religion, Kirche" vom 1.-3.10. in der Heimvolkshochschule Seddiner See

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