Auswendiglernen bis in die Nacht

Bildung in Südkorea
Mit freundlicher Erlaubnis der Autorin. Zuerst veröffentlicht in ZEIT-Online.


Auswendiglernen bis in die Nacht

Südkoreanische Mütter ziehen mit ihren Kindern ins Ausland, damit diese eine gute Bildung bekommen. Gleichzeitig entkommen sie so einem irrwitzigen Leistungsdruck. Von OK-HEE JEONG
19. November 2013


Der 42-jährige Tae-Yun Kim lebt seit vier Jahren von seiner Frau getrennt. Nicht weil das Paar sich gestritten hat, sondern weil seine Frau für den Bildungsplan der beiden Töchter nach Singapur ausgewandert ist. Der Familienernährer arbeitet weiter in Südkorea als Personalleiter einer mittelständischen Firma. Schätzungsweise 200.000 südkoreanische Frauen leben mit ihren Kindern in den USA, Kanada, Australien – oder wenn das Geld nicht reicht, in südostasiatischen Ländern mit internationalen Schulen. Kirugi-Familie, "Wildgänse-Familie" nennen die Koreaner dieses Modell. Der Name soll die Einsamkeit der Väter versinnbildlichen, die allein in der Heimat zurückbleiben.

Schuld daran ist das Bildungsfieber der Südkoreaner, das sie immer wieder zu Pisa-Gewinnern macht. Die "Wildgänse-Familien" wollen ihren Kindern ermöglichen, perfekt Englisch zu lernen, im Ausland eine Eliteuniversität zu besuchen oder zumindest einen guten Universitätsabschluss zu machen und anschließend einen guten Arbeitsplatz zu finden. Aber ihr Wunsch ist es auch, den Kindern das harte südkoreanische Leistungssystem zu ersparen.

Bildung in Südkorea wird in Sa-gyo-yuk und Gong-gyo-yuk unterteilt, in private und staatliche Ausbildung. Für Sa-gyo-yuk bezahlen die Eltern neben der Schule private Hauslehrer oder Unterricht in Lerninstituten (Hagwon). Aber auch der staatliche Unterricht, Gong-gyo-yuk, ist teilweise kostenpflichtig. Kostenlos sind nur die staatlichen sechsjährigen Grundschulen und die dreijährigen Mittelschulen. Für die darauf folgenden dreijährigen staatlichen Oberschulen, die neben den privaten etwa 53 Prozent der gesamten Oberschulen ausmachen, fallen Gebühren an. Für die Universitäten sowieso. Im OECD-Vergleich tragen die südkoreanischen Eltern die höchsten Kosten für staatliche Ausbildungsstätten.

Ziel ist schon im Vorschulalter die Eliteuni

Der Fokus der Eltern ist auf die Aufnahme des Kindes an einer der wenigen Eliteuniversitäten des Landes gerichtet, und zwar schon im Vorschulalter. Es geht nicht darum, dem Ideal des konfuzianischen Menschen nahe zu kommen, wie viele Menschen im Westen vermuten, sondern einzig um sozialen Aufstieg und um soziale Absicherung. Denn nur ein Studium auf einer dieser Eliteuniversitäten sichert einen gut bezahlten Arbeitsplatz. 
Die Prüfungsaufgaben an den Schulen und für die Aufnahmeprüfungen an den Universitäten sind in Multiple-Choice-Form abgefasst. Schüler werden durch Auswendiglernen darauf trainiert, sie zu bestehen. Es bleibt keine Zeit, eine eigene Meinung und selbständige Ideen zu entwickeln. Denn die Kinder lernen täglich von frühmorgens bis spät in die Nacht, auch am Wochenende und in den Ferien.

Die Angebote der unzähligen Hagwon umfassen klassischen Nachhilfeunterricht sowie Kurse in Tanz, Sport, Schreiben, Malen oder Rhetorik für jede Altersstufe. Diese Freizeitangebote werden jedoch nicht zum Spaß angeboten, sondern dienen dazu, Pluspunkte für die spätere Jobsuche oder für die Suche nach einem guten Heiratskandidaten zu sammeln. Sogar für Mütter gibt es Hagwon, damit sie ihre Kinder in den Schulfächern besser unterstützen können. Oder für die Jae-su-saeng, die Wiederholer, die die Aufnahmeprüfung an der Wunschuniversität nicht geschafft haben. Für die angesagten Hagwon müssen Schüler Zugangstests bestehen. Nur wer mehr Geld zahlt, hat einen solchen Hagwon-Platz sicher.

Die Privatdozenten der Hagwon bringen trotz gesetzlicher Verbote den Schülern die Lerninhalte der höheren Schulklassen bei. Bis zu drei Schuljahre lernen die Kinder vor, damit sie einen Vorsprung vor den Mitschülern haben. Werden die Kinder in die erste Klasse eingeschult, können fast alle schon rechnen und schreiben und die Lehrer überspringen die Alphabetisierung wie selbstverständlich.

Da der Etat der staatlichen Schulen von den Erfolgen der Schüler abhängt, erteilen auch sie unerlaubterweise in den Ferien Unterricht mit den Lerninhalten der höheren Klassen, um mit den Schulen mitzuhalten, die die besten Hagwon in der Nähe haben.

Verstärkt wird der brutale Wettbewerb noch durch die öffentlichen Notenrankings. Die Zensuren jedes einzelnen Schülers werden im Verhältnis zu den Klassenkameraden, den Schülern der Stadt und des ganzen Landes offengelegt. Sogar der Intelligenzquotient steht im Zeugnis. Die Wertung erfolgt in den Kategorien bester Schüler, guter Schüler, schlechter Schüler und schlechtester Schüler. Und im späteren Leben geht die Klassifizierung weiter in Absolvent einer Eliteuniversität und in Absolvent einer zweit-, dritt- oder viertklassigen Universität.

Auch Mittelschichtsfamilien suchen Schulen im Ausland

Die private Bildung ist zu einem Riesengeschäft geworden. Lernmaterialien beanspruchen in den Buchhandlungen fast ein Drittel der Räume. Mütter schreiben Bücher darüber, wie sie es geschafft haben, ihre Kinder auf eine Eliteuniversität zu bringen, streichen Honorare von Hagwon ein, weil sie sie an andere Mütter weiterempfehlen oder machen gleich ein eigenes Hagwon auf. Vermieter können höhere Mieten verlangen, wenn gute Hagwon in der Nähe sind. Ganz zu schweigen von den unzähligen Pensionen für Schüler, die wegen der besseren Schulbildung oder eines Hagwon ohne Eltern in Seoul leben.

Den enormen Leistungsdruck erklärt sich "Wildgänse-Vater" Tae-Yun Kim mit der Asienkrise Ende der neunziger Jahre: "Vor der Asienkrise konnte man einen guten Arbeitsplatz finden, wenn man eine gute Universität besucht hatte. Es reichte dafür auch völlig aus, im vorletzten Oberschuljahr intensiv zu lernen."

Adler-Väter, Pinguin-Väter und Spatzen-Väter

Wildgänse-Familien gibt es nicht mehr nur in der Oberschicht, sie sind längst in der unteren Mittelschicht zu finden. Aber das Einkommen bestimmt den Stil. Adler-Väter werden Väter der Oberschicht genannt, weil sie so reich sind, dass sie ihre Kinder und Ehefrau ins Ausland schicken, sie aber jederzeit besuchen können. Pinguin-Väter sind  wirtschaftlich dazu nicht in der Lage und bleiben voller Sehnsucht in der Heimat. Wer kein Geld hat, die Familie ins Ausland zu bringen, wird wenigstens zum Spatzen-Vater. Dessen Kinder und Ehefrau sind nur nach Seoul gezogen, aber möglichst in die Viertel, wo die besten Hagwon unterrichten.

Laut der Statistik der Korean National Statistical Office von 2012 erhalten siebzig Prozent der Kinder in Südkorea Privatunterricht. Je höher das Einkommen einer Familie ist, desto höher sind auch die Ausgaben für die Bildung der Kinder – und desto besser sind die Noten.

Schon seit Jahren gibt es scharfe Kritik in der Bevölkerung, die die Demokratisierung der Wirtschaft, der Arbeitszeit und der Bildung fordert. Denn welche Werte wird das Land vertreten, wenn die zukünftigen Träger der Gesellschaft keine Erfahrungen außer Schule und Hagwon haben, wenn sie nichts anderes kennenlernen außer Multiple-Choice-Fragebögen und Wettkampf? Und in der nur die erfolgreich sein werden, die es sich leisten können.

Ob sie wollen oder nicht, die meisten Familien versuchen, zumeist mithilfe von Krediten, im brutalen Bildungskampf um gute Noten mitzuhalten – auf Kosten des Familienlebens und der physischen und psychischen Gesundheit der Kinder.

Südkorea hat die höchste Selbstmordrate unter Kindern, Jugendlichen und alten Menschen. Es hat die niedrigste Geburtenrate der Welt und die höchste Arbeitszeit im Vergleich zum OECD-Durchschnitt. Ein Prozent der Bevölkerung besitzt 65 Prozent des gesamten Volksvermögens. Ein zehnjähriger Junge schrieb kurz vor dem Suizid in sein Tagebuch: "Ich verstehe nicht, warum ich auf diese Weise lernen muss. Papa arbeitet in zwei Tagen 20 Stunden und hat 28 Freistunden, aber ich, ein Kind, muss 27 Stunden und 30 Minuten lernen und habe 20 Stunden und 30 Minuten frei. Ich habe soviel Hausaufgaben. Ich lerne und lerne, aber meine Noten werden nicht besser. Ich möchte nicht mehr hin. … Ich möchte frei sein wie ein Fisch im Meer."

Frei sein wollten auch die Töchter von Kim Tae-Yun, dem Wildgänse-Vater: Sie waren sofort damit einverstanden, als die Eltern ihnen den Vorschlag machten, Südkorea zu verlassen.