Friedensethische Überlegungen zum Thema Wiedervereinigung

EKD-Delegation in Nord- und Südkorea

Wolfgang Huber

Bischof und Vorsitzender des Rates der EKD

 

Vortrag am Theological Seminary der PCK / Korea

18. September 2009

Wenn wir heute Morgen Fragen der Friedensethik bedenken, wollen wir an die erste Stelle das Gedenken an einen Mann stellen, dessen Lebenswerk es war, sich für Frieden einzusetzen. KIM Dae Jung hat das Ziel der Vereinigung beider koreanischer Landesteile nie aus den Augen verloren. Wir neigen unser Haupt vor einem Mann, der zur Versöhnung bereit war, der bereit war, den ersten Schritt zu tun. Ich erinnere mich in großer Dankbarkeit an die persönlichen Begegnungen, die mich mit ihm zusammengeführt haben. Zu seinen Ehren widmen wir uns dem Thema der Wiedervereinigung und des Friedens. Sein Erbe treten wir an, wenn wir hier und jetzt auf die Geschichte und das Geschick zweier Länder blicken, die das gemeinsame Schicksal der Teilung verbindet.

In Deutschland stehen wir im Jahr zwanzig nach der friedlichen Revolution. In Korea blicken Sie auf anhaltende Spannungen, aber auch auf viele Schritte aufeinander zu Schritte der Hoffnung, auch große Schritte; beispielhaft denke ich dabei an die Resolution des interkoreanischen Gipfels vom 15. Juni 2000. Dennoch stehen wir Deutsche und Koreaner an unterschiedlichen Punkten.

Als ich im April 1988 die Ehre hatte, an der Internationalen Christlichen Konsultation in Inchon teilzunehmen, hätte ich nicht vorauszusagen gewagt, dass ich mit ihnen gemeinsam nun gut zwanzig Jahre später auf eine fast ebenso lange Zeit der Wiedervereinigung Deutschlands schauen würde. Kaum jemand rechnete damals mit dem, was im Herbst 1989 in Berlin geschah. Ich selbst weiß nur einen, der so kühn war, die Einheit Deutschlands im Voraus auf das Jahr 1990 zu datieren. Das war der wegen seines großen Einsatzes für Korea manchen von Ihnen bekannte Berliner evangelische Bischof Kurt Scharf. Er wurde im April 1975 gefragt, „wann mit einer Wiedervereinigung zu rechnen sei.“ Der verantwortliche Umgang mit zinsbringend angelegten kirchlichen Hilfsgeldern bildete den höchst nüchternen Anlass für diese Frage, die dem Bischof nahezu prophetische Gaben abverlangte. Kurt Scharf entzog sich der Herausforderung nicht. Vielmehr antwortete er auf die Frage, wann mit einer deutschen Wiedervereinigung zu rechnen sei, handschriftlich unter dem Datum des 23. April 1975: „In 15 Jahren! Aber dann werden die Papiere steigen wegen des erhöhten Wirtschaftspotentials.“

Die Voraussage des Bischofs bewahrheitete sich aufs Jahr genau. Die Öffnung der Mauer in Berlin am 9. November 1989 war dafür das entscheidende Datum.

Ich möchte Ihnen von den Ereignissen in Deutschland an jenem 9. November auch aus einem ganz persönlichen Blickwinkel berichten. Anschließend werde ich die Eckpfeiler einer biblischen Rede vom Frieden nachzeichnen und dabei ganz bewusst an das anknüpfen, was ich 1988 bei der Internationalen Konsultation in Inchon vorgetragen habe. In einem dritten Teil möchte ich Ihnen ein Dokument der Evangelischen Kirche in Deutschland zum Thema Frieden von 2007 vorstellen ein Denkschrift, die große Beachtung in der deutschen Öffentlichkeit gefunden hat. Schließen werde ich mit einer Standortbestimmung, die festzuhalten versucht, vor welchen Herausforderungen wir gegenwärtig stehen.


I Rückblick im Überblick
20 Jahre friedliche Revolution

 

In meiner eigenen Biographie kommt das Jahr 1989 direkt neben dem Kriegsende 1945 zu stehen, dem frühesten Geschehen, mit dem sich für mich eigene Erinnerungen verbinden. 1989 ist für mich die größte historische Wende seit 1945.

In diesen Tagen wird man in Deutschland oft gefragt, wie und wo man den 9. November 1989 verbracht hat und welche Erinnerungen sich mit diesem Tag verbinden. Ich weiß, wo ich am 9. November 1989 war und am 10. November auch. Für mich war der 9. November 1989 ein Ausnahmetag. Ich hatte den Herbst 1989 denkbar weit vom Ort des Geschehens zugebracht, nämlich als Gastprofessor in den USA. Von Woche zu Woche bedrängte mich das Gefühl mehr, weit weg zu sein von Entscheidendem, das in meinem eigenen Land und in ganz Europa geschah. Anfang November war ich zu verschiedenen Veranstaltungen nach Deutschland eingeladen. Den 9. November verbrachte ich mit meiner Familie in Heidelberg. Fernsehnachrichten waren deshalb an diesem Abend tabu. Die Nachricht vom Fall der Mauer eröffnete mir meine Frau erst am nächsten Morgen.

So wurde ich am frühen Morgen des 10. November von der Tatsache überrascht, dass in Berlin die Mauer offen stand. Aber genau dorthin nach Berlin musste ich an diesem 10. November reisen. Klar und wolkenlos war der Himmel. Auf dem Flug von Frankfurt nach Berlin war die Landschaft unter mir genauso deutlich zu erkennen wie die lange Schlange von Autos am Berliner Grenzübergang. Unauslöschlich hat sich mir das eingeprägt.

Zwar hatte ich zunächst in West-Berlin eine dienstliche Verpflichtung. Die fand auch unverändert statt so sind wir Deutschen. Doch so schnell ich irgend konnte, machte ich mich im Anschluss auf den Weg durch die jubelnde Stadt. Tausende kletterten am Brandenburger Tor auf die Mauer; einer machte dem nächsten Platz. Jeder wollte spüren, dass diese Mauer die Stadt nicht mehr teilte und die Menschen nicht mehr voneinander trennte.

Gewiss gibt es keinen Grund, in der Erinnerung an die Ereignisse des Jahres 1989 den 9. November absolut zu setzen. Man muss auch viele andere Daten nennen. Den 9. September beispielsweise, als eine wichtige Rede des ungarischen Außenministers Guyla Horn angekündigt wurde, der dann am folgenden Tag die Öffnung der Grenze zwischen Ungarn und Österreich in aller Form vollzog, über die ja schon in den Wochen zuvor, wenn auch formell betrachtet noch illegal, Tausende von DDR-Bürgern nach Westen gegangen waren. Nun aber, mit dem 9. beziehungsweise 10. September war klar, dass sich die Wagenburg DDR nicht mehr halten ließ. Die dramatischen Entwicklungen dieser Tage hingen auch mit den politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zusammen, die zur Dynamik dieser Entwicklung beitrugen; die große Zahl von Ausreisen aus der DDR unterstrich den Handlungsdruck; und die Öffnung der Grenze zwischen Ungarn und Österreich erwies sich als wichtiges Signal. In verschiedenen Ländern Mittel- und Osteuropas spielten die Kirchen als Motor der Veränderung eine wichtige Rolle.

Oder den 9. Oktober 1989 muss man nennen, dessen große Demonstration in Leipzig durch ihren friedlichen Verlauf prägend war für das, was folgte. Dieser Tag ist für unsere Fragestellung nach der friedensethischen Beurteilung der Ereignisse von 1989 von herausragender Bedeutung. Denn an ihm war alles darauf vorbereitet, den aus den Friedensgebeten der Kirchen hervorgehenden, in Leipzig von Montag zu Montag an Zahl wachsenden Demonstrationen mit staatlicher Gewalt entgegenzutreten. Die Demonstranten reagierten darauf mit demonstrativer Gewaltlosigkeit, mit Kerzen in den Händen. Unter Einsatz ihres Lebens, so hat ein Beobachter es beschrieben, setzten sie ein Zeichen gegen den angedrohten Exzess der Staatsgewalt gegen das eigene Volk. 10.000 Soldaten, Polizisten und Geheimdienstleute waren gegen sie aufgeboten; aber gegen die unerwartete Zahl von 70.000 Demonstranten waren das zu wenig. „Keine Gewalt! ohne Zweifel war dieser Abend, für den eine militärische Niederschlagung der Großdemonstration bis hin zum vorab erteilten Schießbefehl minutiös vorbereitet war, die Bewährungsprobe schlechthin für die Friedensgebete.“ Das Volk trat gewaltlos der Staatsmacht entgegen. Der amtlichen Aufforderung: „Platz machen Volkspolizei“ antworteten einzelne Demonstranten: „Wir sind das Volk“. Daraus wurde die entscheidende Parole der friedlichen Revolution von 1989. Auf der Basis strikter Gewaltlosigkeit bildete sich eine zivile Gegengesellschaft. Aber eine einzige unbedachte Handlung hätte sehr leicht in eine Eskalation der Gewalt, ja in eine Katastrophe führen können. Dass das nicht geschah, sondern die Gewaltlosigkeit das Feld behielt, war, wie der langjährige Pfarrer an der Leipziger Nikolaikirche sagte, ein „Wunder biblischen Ausmaßes“. Mit diesem Wunder vollzog sich eine entscheidende Wende in der friedlichen Revolution von 1989. [1] Ein knappes Jahr später, am 3. Oktober 1990, war die deutsche Einheit Wirklichkeit geworden; die Voraussage von Bischof Kurt Scharf hatte sich erfüllt.

Ganz anders stellt sich die Geschichte der koreanischen Halbinsel dar, wenn wir auf die letzten zwanzig Jahre blicken. Es ist die Geschichte eines weiterhin geteilten Landes. Die Entfremdung der Bevölkerung beider Teile zieht einen zusätzlichen tiefen Graben zwischen Nord und Süd. Der Süden Koreas hat in den letzten zwanzig Jahren einen tiefgreifenden Demokratisierungsprozess durchschritten. Wirtschaftlich gesehen hat ein extremes Auf und Ab in Abhängigkeit zu den internationalen globalisierten Märkten das Leben und Arbeiten in Südkorea bestimmt. In Nordkorea hat der Wechsel der Macht 1994 von Präsident Kim Il Sung auf seinen Sohn Kim Jong Il keine einschneidenden politischen Veränderungen bedeutet. Wirtschaftlich hatte der Zusammenbruch des ehemaligen Ostblocks in Nordkorea schwierige Engpässe in der Versorgung der Bevölkerung zur Folge. Schon diese Eckdaten deuten das große Leid an, das nicht zuletzt durch die Teilung des Landes der Bevölkerung auferlegt wird.

Ein Datum sticht aus diesen letzten zwanzig Jahren besonders heraus: Im Juni 2000 traf Präsident Kim Dae-jung mit dem nordkoreanischen Führer Kim Jong-il in Pjöngjang zusammen. In den Kirchen Südkoreas wird regelmäßig an dieses Friedensdatum sowie an das Friedensdokument, die „Joint Declaration“, erinnert, das bei diesem Treffen unterzeichnet wurde. Der Wunsch nach einer Wiedervereinigung des Landes fand mit diesem Vorgang einen bemerkenswerten politischen Ausdruck.

In Memorandum, mit dem die südkoreanischen Kirchen die Öffentlichkeit in diesem Jahr mahnend an dieses Datum erinnerten, wird festgehalten:

Peace on the Korean peninsula should not be given up even in any difficult circumstance and is a goal for all the people to achieve. On the occasion of the 9th anniversary of the June 15 Joint Declaration by the South-North Summit Talks, however, we cannot but seriously worry about today's situation in which peace on the Korean peninsula that has been well processed is seriously threatened by the possibility of local armed clashes on west sea as well as of large scale military battle. Recently high ranked authorities of respective countries to Korean peninsula are mentioning of inescapability of war and even raising from Japan of necessity of preemptive attack to North Korea. [...]

We reassure that peace and reunification is our mission mandate which God entrusts churches in Korea to do and we will continue our prayer for this.

Beide Schicksale das der Deutschen und das der Koreaner, so unterschiedlich sie sich in den letzten zwanzig Jahren entwickelt haben sollen den Horizont bilden, in dem meine weiteren Ausführungen zu einigen Aspekten der Friedensethik stehen.


II Die Praxis der Feindesliebe
Biblisch - theologische Überlegungen zum Frieden

 

Mit diesen Überlegungen knüpfe ich unmittelbar an den Versuch einer biblischen Grundlegung der Friedensethik an, den ich vor mehr als zwanzig Jahren hier in Korea, bei der schon erwähnten Internationalen Konsultation in Inchon, vorgetragen habe. Es handelt sich um biblische Einsichten, die nach meiner Überzeugung unverändert aktuell sind.

Im ersten Teil der Bibel, dem so genannten Alten Testament, begegnet uns der Begriff des shalom. Viel zu kurz würde es greifen, diesen Ausdruck wie eine Vokabel mit dem Wort Frieden zu übersetzen. Vielmehr leitet der alttestamentliche Begriff shalom an, einen weiten Zugang zum Verständnis von Frieden zu gewinnen. Es ist eben nicht nur die Abwesenheit von Krieg, wie Koreaner und Koreanerinnen aus leidvoller Erfahrung bekräftigen, wenn sie darauf beharren, dass ein Waffenstillstandabkommen oder ein Nichtangriffspakt noch keinen Frieden sichern können. Shalom ist vielmehr ein umfassender Begriff, der Gemeinschaft, Heil und Unversehrtheit umfasst. Für die römische Zeit lässt sich das biblische Verständnis des shalom am Gegensatz zu der allgemein etablierten pax Romana verdeutlichen, die ein ausgedehntes Hegemonialsystem mit dem Begriff des Friedens bemäntelte. Gegenüber stehen sich mit pax Romana und der biblischen Rede vom shalom zwei Friedenskonzeptionen, die ihre Entsprechungen bis in die heutige Zeit haben.

Vom biblischen Begriff des shalom gehen wir aus, wenn wir ins Neue Testament schauen. Das Neue Testament versteht Frieden als die Gabe der Versöhnung, als ein Geschenk, das die Liebe gegenüber dem Feind möglich macht. Der Sinn des Friedens zeigt sich in der Wirklichkeit der Versöhnung durch den Tod Jesu am Kreuz; deshalb wird die Aufgabe der christlichen Gemeinde als „Dienst der Versöhnung“ bestimmt (2 Korinther 5,17ff). Der Weg des Friedens zeigt sich hier in der Praxis der Feindesliebe, von der die Bergpredigt spricht (Matthäus 5,43-48).

Ihr habt gehört, dass gesagt ist: »Du sollst deinen Nächsten lieben« (3.Mose 19,18) und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, damit ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. Denn wenn ihr liebt, die euch lieben, was werdet ihr für Lohn haben? Tun nicht dasselbe auch die Zöllner? Und wenn ihr nur zu euren Brüdern freundlich seid, was tut ihr Besonderes? Tun nicht dasselbe auch die Heiden? Darum sollt ihr vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist.

Die Praxis der Feindesliebe, wie Jesus sie hier beschreibt, schließt drei grundlegende Schritte ein.

Zu ihr gehört zunächst die Einsicht, dass menschliches Leben immer wieder von Gegensätzen und Gegnerschaften bestimmt ist. Die Einsicht in die Realität von Feindschaft ist der erste Schritt der Feindesliebe. Diese Realität prägt das persönliche wie das gesellschaftliche, das politische wie das religiöse Leben. Das Gebot der Feindesliebe lässt sich nicht auf den Bereich der Privatmoral beschränken.

Feindesliebe meint sodann eine Umkehrung der Wahrnehmung. Vertraut ist diejenige Denkweise, die im Verhalten des andern vielfältige Gründe für die Entstehung und Verschärfung der Feindschaft findet, das eigene Verhalten aber als aller Feinseligkeit fern versteht. Sie deutet das Verhalten des andern als aggressiv, das eigene Verhalten aber als defensiv. Feindesliebe dagegen fordert dazu auf, nicht nur den andern als Urheber der Feindschaft anzusehen, sondern sich der Frage zu stellen, was im eigenen Verhalten dem andern als bedrohlich erscheint, worin man selbst des andern Feind wird. Die Wahrnehmung des Konflikts aus der Perspektive des andern ist eine spezifische Form des christlichen Realismus. Sie ist ein entscheidender Beitrag der Christen zu politischen Ethik.

Feindesliebe ermutigt schließlich zu sozialer Phantasie, die der Gewalt der Feindschaft Schritte entwaffnender Feindesliebe entgegensetzt. Die Bergpredigt Jesu schildert solche soziale Phantasie an drei Erfahrungsbereichen: am persönlichen Streit, an der rechtlichen Auseinandersetzung und an politischer Fremdherrschaft (Matthäus 5,38-42). Sie will damit zeigen, dass die soziale Phantasie der Feindesliebe in allen Feldern menschlichen Lebens ein verändertes Verhalten in Gang setzt. Feindesliebe ist also keineswegs auf den persönlichen Bereich beschränkt; sie hat eine politische Dimension. Statt der Produktion von Feindbildern kann die Entwicklung von Feindesliebe zum Grundmotiv politischen Handelns werden. Das ist kein naives Programm. Es schließt vielmehr die nüchterne Einsicht in Strukturen der Feindschaft ebenso ein wie die Erkenntnis, dass unter den heutigen Bedingungen der Waffentechnik ein Ausleben der Feindschaft selbstmörderisch ist. Die Feindschaft muss also gebändigt, ja überwunden werden. „Intelligente Feindesliebe“ (C.F. v. Weizsäcker) kann dieser Aufgabe dienen.

Im Konflikt zwischen den gegensätzlichen Auffassungen vom Frieden beziehen Christen Position: sie stellen sich nicht auf die Seite der pax Romana, sondern auf die Seite des shalom, nicht auf die Seite des Herrschaftsfriedens, sondern des Friedens der Gemeinschaft. Die Weite des biblischen shalom antwortet auf die Weite und Dringlichkeit der heutigen weltweiten Friedensgefährdung. Die Friedenszusage Gottes eröffnet den Menschen Frieden als Lebensform; er schließt die Bändigung der Gewalt, die Förderung der Gerechtigkeit und die Versöhnung mit der Natur ein. Die biblische Friedensbotschaft ist in der Zusage der Versöhnung zusammengefasst: sie eröffnet eine Praxis der Feindesliebe. In ihr liegt der wichtigste Beitrag, den Christen in der Gegenwart zur Wahrung und Förderung des Friedens leisten können. Wenn wir nach Beiträgen der Kirchen zum Frieden fragen, können wir uns also mit einem bewaffneten Frieden nicht abfinden. Der Herrschaftsfrieden, der sich auf die Sprache der Waffen stützt, ermöglicht kein freies, gelingendes und gerechtes Leben. Die Arbeit der Christen zielt auf den shalom, auf die Überwindung der Gewalt, darauf, dass die Menschen miteinander sprechen: „Es ist unser Wille, dass die Waffen schweigen und die Menschen sprechen.“

Intelligente Feindesliebe ist weniger in der Verurteilung des andern erfinderisch als in dem Versuch, ihn besser zu verstehen. Sie versucht, den Konflikt mit den Augen des andern zu sehen; sie bemüht sich um Empathie. Sie fragt, was am eigenen Verhalten beim andern Furcht und Hass erregt und ihn zu aggressivem Verhalten herausfordern könnte; sie bemüht sich um nicht-provokatives Verhalten. Sie sucht nach gemeinsamen Interessen und neuen Möglichkeiten der Kooperation. Sie verwendet wirtschaftliche Macht nicht als Mittel, um andere in Abhängigkeit zu halten, sondern als Instrument, um faire Kooperationsformen aufzubauen. Sie baut darauf, dass der Ausbruch von Gewalt umso unwahrscheinlicher ist, je stärker die wechselseitige Verflechtung die Interdependenz geworden ist.

Eine Politik der intelligenten Feindesliebe beruht auf Empathie; sie bemüht sich um nicht-provokatives Verhalten, Kooperation und Interdependenz. Dass diese Leitlinie verändernde Kraft hat, habe ich vorhin am Beispiel der friedlichen Revolution in Deutschland im Jahr 1989 gezeigt. Zu einem ihr entsprechenden Verhalten können die Kirchen beitragen. „Keine Gewalt“ hieß die Parole, in der das zum Ausdruck kam. Gemeinschaft über Grenzen hinweg wird von den Kirchen vor allem in der wechselseitigen Fürbitte aufgebaut. Die Bemühung um Informationen gehört zu ihren Möglichkeiten wie der Austausch von Besuchen und der Aufbau der Partnerschaften. Das hat in Deutschland die Beziehungen von Kirchen und Gemeinden über Mauer und Eisernen Vorhang hinweg über die Jahrzehnte hin erhalten und gestärkt. An manchen Orten bestehen auch zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung noch die besonderen Freundschaften, die sich damals über Grenzen hinweggesetzt haben und die scheinbar unüberwindbare Grenze in Frage gestellt haben. Heute rücken daneben die Partnerschaften und Beziehungen zu Kirchen und Gemeinden in den ärmsten Ländern des Globus in den Blick, zu Ländern in Afrika, Asien und Lateinamerika. Die Menschen im Armutsgürtel der Erde gehören nicht erst seit der zunehmenden wirtschaftlichen Globalisierung zu den Verlierern gehören; in vielen Ländern verhindern Misswirtschaft und politische Instabilität vielmehr schon seit langem Frieden und Wohlstand. Aus dieser Perspektive rückt die Frage nach Frieden zwischen den Menschen, zwischen Völkern und Staaten in den Horizont der Frage nach der Gerechtigkeit. Dass Frieden und Gerechtigkeit zusammen gehören, lässt sich schon aus der biblischen Vorstellung vom shalom ableiten.

Diese Zusammengehörigkeit von Frieden und Gerechtigkeit ist der besondere Akzent eines aktuellen Dokuments, das die Evangelische Kirche in Deutschland zur friedensethischen Debatte vorgelegt hat und das ich Ihnen nun vorstellen möchte.


III Gerechter Friede
Die friedensethische Position der EKD

 

Im Herbst 2007 erschien die Denkschrift „Aus Gottes Frieden leben - für gerechten Frieden sorgen“ des Rates der EKD. Die mir wichtigsten Grundlinien will ich knapp skizzieren. [2]

Schon der Titel der Denkschrift zeigt, dass die Friedensthematik in einer doppelten Perspektive betrachtet wird. Die Formel „Aus Gottes Frieden leben“ verweist auf den unverfügbaren, transzendenten Grund des Friedenshandelns der Christenheit. Die Formel „Für gerechten Frieden sorgen“ nennt die innerweltliche, immanente Aufgabe des Friedenshandelns beim Namen. Beide Dimensionen werden in der Denkschrift als unauflösliche Einheit gedacht: Weil Christen aus Gottes Frieden leben, treten sie für den Frieden in der Welt ein. [3] In beiden Dimensionen leuchtet auch auf, dass Frieden keine Selbstverständlichkeit ist. Wo Menschen ihn als Gut nicht fördern und bewahren eben für ihn sorgen , stellt sich Friede nicht von selber ein. Er ist eine immerwährende Aufgabe. Zugleich ist es Grund zu Dank und Lob Gottes, wo Friede gelingt und gedeihen kann; denn Gottes Friede ist es, der uns gewährt ist, und sein Gelingen bleibt im Letzten unverfügbar, bleibt Geschenk und Gabe.

Das Kapitel „Der Friedensbeitrag der Christen und der Kirche“ nähert sich aus einem ganz speziellen Blickwinkel der Friedensthematik. Es enthält nicht nur eine biblisch-theologische Begründung für das Friedensengagement der Christen, sondern macht von einer Phänomenologie des christlichen Gottesdienstes aus deutlich, wie der Einsatz für den Frieden in der Welt bereits in den Grundvollzügen der christlichen Existenz angelegt ist. Das Gebet für den Frieden steht hier im Zentrum der Überlegungen:

„Im Gebet für den Frieden („Verleih uns Frieden gnädiglich“) bringen Christenmenschen zum Ausdruck, dass die Sorge für den Frieden der Welt Rückhalt findet im Vertrauen auf den Frieden Gottes, (der höher ist als alle Vernunft). In den Fürbitten kommt der Unfriede in der Welt zur Sprache, gerade auch derjenige, den die Medien nicht (mehr) im Blick haben; sie wirken gegen das Vergessen und Verdrängen.“ [4]

Ein weiterer Aspekt, den dieser Abschnitt hervorhebt, liegt in der Aufgabe der Kirchen, zum Frieden zu bilden. Es wird daran erinnert, dass sich der Evangelischen Kirche in Deutschland aufgrund ihres Engagements als Trägerin von Kindergärten und Kindertagesstätten eine besonders gute Chance bietet, mit der Erziehung zum Frieden bereits im Elementarbereich anzusetzen. „Friedenserziehung kann im menschlichen Leben gar nicht früh genug beginnen.“ [5] Darüber hinaus ist die Kirche in ihrem Bildungsauftrag im Religionsunterricht in der Schule und im kirchlichen Konfirmandenunterricht gefragt. „Für gerechten Frieden sorgen und aus Gottes Frieden leben“ beinhaltet einen umfassenden Bildungsauftrag.

Im Zentrum der Denkschrift steht der Begriff des „gerechten Friedens“. Er ist Leitbegriff und Zielperspektive der christlichen Friedensethik. Damit befindet sich die Denkschrift in erfreulicher ökumenischer Übereinstimmung mit Äußerungen anderer Kirchen, darunter auch der römisch-katholischen Kirche. Vom gerechten Frieden zu sprechen, beinhaltet eine unmittelbare Absage an die Lehre vom gerechten Krieg. Dass es für unsere Kirche kein Zurück zu dieser „klassischen“ Lehre vom gerechten Krieg geben kann, wird mit klaren Gründen ausgeführt. [6] Die Lehre vom gerechten Krieg ist an der Vorstellung von einer Rechtfertigungsfähigkeit des Krieges an Hand naturrechtlicher Maßstäbe orientiert. Beide Teile dieser Vorstellung sind uns abhanden gekommen. Wir glauben nicht mehr, dass der Krieg sich rechtfertigen lässt. Und wir rechnen nicht mit einer allgemeinen Anerkennung naturrechtlicher Maßstäbe. Dass in der neuzeitlichen Entwicklung die Denkfigur eines von beiden Seiten gerechten Krieges entwickelt wurde, zeigt vollends die Ambivalenz dieser Denkfigur.

Von ihr Abschied zu nehmen, bedeutet freilich nicht, die Kriterien, die in dieser Lehre entwickelt wurden, für obsolet zu erklären. Doch die Aussage, dass man sich nach den Regeln des Rechts unter Umständen an kriegerischer Gewaltanwendung beteiligen darf, ist etwas anderes, als den Krieg zu rechtfertigen. Deshalb verträgt sich eine klare Absage an die Lehre vom gerechten Krieg mit der Aufnahme ihrer Kriterien für die Klärung der Frage, ob militärische Gewalt zur Erhaltung des Rechts eingesetzt werden darf und wo die Grenzen solcher rechtserhaltender Gewalt zu ziehen sind. An die Stelle einer Lehre vom gerechten Krieg tritt also, wie die Friedensdenkschrift präzise herausarbeitet, eine Ethik rechtserhaltender Gewalt.

In unserer Denkschrift werden Grundsätze und Maximen vertreten, die ebenso einfach wie überzeugend sind: Wer den Frieden will, muss den Frieden vorbereiten. Wer aus dem Frieden Gottes lebt, tritt für den Frieden in der Welt ein. Gerechter Friede in der globalisierten Welt setzt den Ausbau der internationalen Rechtsordnung voraus. Staatliche Sicherheits- und Friedenspolitik muss von den Konzepten der „menschlichen Sicherheit“ und der „menschlichen Entwicklung“ her gedacht werden. Diese klaren Leitgedanken verbinden sich mit konkreten Handlungsoptionen. So ist etwa mit der geforderten Rechtsförmigkeit einer internationalen Friedensordnung der Anspruch verknüpft, dass diese Rechtsordnung dem Vorrang der zivilen Konfliktbearbeitung verpflichtet ist und die Anwendung von Zwangsmitteln an strenge ethische und völkerrechtliche Kriterien bindet. Durchgängig wird in der Denkschrift die Notwendigkeit der Prävention hervorgehoben; gewaltfreien Methoden der Konfliktbearbeitung wird der Vorrang zuerkannt; den zivilen Friedens- und Entwicklungsdiensten wird für die Wiederherstellung, Bewahrung und Förderung eines nachhaltigen Friedens eine wichtige Rolle zugeschrieben.

Das Konzept der „menschlichen Sicherheit“ steht seit den neunziger Jahren im Zentrum friedenspolitischer Konzepte, die in den Vereinten Nationen erarbeitet wurden; er löste ältere Konzepte ab, die zunächst von „gemeinsamer Sicherheit“ und dann von „erweiterter Sicherheit“ sprachen. Allen drei Konzepten ist gemeinsam, dass sie einem bloß national verengten Sicherheitsbegriff widerstreiten und der Falle des sogenannten „realistischen Paradigmas“ der Friedenspolitik entgehen wollen, das immer vom Szenario des schlimmsten Falls (dem worst-case-Szenario) ausgeht. [7]

Ohne Zweifel spielt der Sicherheitsbegriff in seinen verschiedenen Aspekten und mit seinen unterschiedlichen Konnotationen in den aktuellen friedenspolitischen Debatten eine zentrale Rolle. [8] Das gilt nicht erst seit dem 11. September 2001. Seit diesem Datum aber wird die Diskussion sehr stark auf Bedrohungen durch den modernen internationalen Terrorismus fokussiert, bisweilen auch verengt. Das Spezifikum des Konzepts der „menschlichen Sicherheit“ besteht demgegenüber darin, dass es konsequent auf die Sicherheitsbedürfnisse der Menschen in ihrem Alltagsleben abhebt und dabei auf der Idee beruht, „dass es zu den Aufgaben der Staaten und der internationalen Gemeinschaft gehört, die einzelnen Menschen sowohl vor Gewalt als auch vor Not zu schützen“. [9]

Als Desiderat wird in unserer Denkschrift auch genannt, dass es für die Zukunft darauf ankomme, ein „friedens- und sicherheitspolitisches Gesamtkonzept“ zu entwickeln. [10] Ein solches sei derzeit nicht zu erkennen, werde aber dringend benötigt. Denn nur in einem solchen Gesamtkonzept wird, das kann man erläuternd hinzufügen, der Begriff der (menschlichen) Sicherheit in Beziehung zum Friedensbegriff selbst gesetzt. Und im Rahmen eines solchen Konzeptes wird deutlich werden, dass vom Leitbegriff des gerechten Friedens aus gedacht werden muss und dass von ihm aus gesehen Konzepte wie das der menschlichen Sicherheit zwar ihren Stellenwert haben, aber selbst nur Konzepte von mittlerer Reichweite darstellen.

Das Bekenntnis zu Gottes Frieden bildet Grund und Horizont für die Schritte, die wir mit unserer Denkschrift gehen. Wir vertrauen das Wirken für den Frieden dem Segen Gottes an so wie es am Ende unserer Gottesdienste heißt: „Der Herr erhebe sein Angesicht auf dich und gebe dir Frieden.“ Der Friede Gottes bildet Grund und Horizont allen menschlichen Bemühens. Durch ihn fühlen wir uns zugleich allen Friedensbemühungen von Partnerkirchen in anderen Ländern verbunden und wissen uns mit ihnen einig in der Aufgabe, den Unfrieden auf allen Ebenen unseres Zusammenlebens zu durchbrechen. In ganz besonderer Weise verbindet uns das mit den Kirchen im noch immer geteilten Korea.


IV Ausblick
Aktuelle Herausforderungen

 

Vor welchen Herausforderungen stehen wir heute? Und welche Perspektiven kann evangelische Friedensethik angesichts dieser Herausforderungen entwickeln? Ich schließe mit vier knappen Hinweisen.

1. In breiter ökumenischer Übereinstimmung erweist sich der Begriff des gerechten Friedens als Leitbegriff christlicher Friedensethik. Die klassische Lehre vom gerechten Krieg ist dagegen zu verabschieden. Zu ihr führt kein Weg zurück. Die Konzentration auf den Leitbegriff des gerechten Friedens verbindet sich mit einer bewussten theologischen Prägung der Friedensdiskussion.

In der Entwicklung der Friedensethik der EKD wird Frieden zunächst nicht als ein Projekt, sondern als eine Gabe, er wird nicht als ein politisches Vorhaben, sondern als eine von Gott gegebene Wirklichkeit angesehen. Das verpflichtet immer wieder dazu, den Begriff des Friedens ganzheitlich und umfassend zu verstehen. Zugleich wird dadurch alles Wirken für den Frieden als antwortendes Handeln erkannt. Wahrgenommen wird auch, dass dieses Wirken bruchstückhaft bleibt und immer wieder neuen Anfechtungen ausgesetzt ist. Geschichtstranszendierende Hoffnung und nüchterner Wirklichkeitssinn verbinden sich in einer solchen Friedensethik miteinander.

Vor allem aber schärft der Blick auf den verheißenen göttlichen Frieden die Aufmerksamkeit dafür, wie weit die Kirchen selbst hinter dieser Verheißung zurückgeblieben sind. Die aktuelle Kritik an einer neuen Verbindung zwischen Religion und Gewalt hat ihre allein tragfähige Grundlage in einer selbstkritischen Reflexion der eigenen Gewaltgeschichte. Ich möchte in diesem Zusammenhang anmerken, wie sehr mich die Schilderungen von Hwang Sok-yong in seinem Roman „Der Gast“ beeindrucken; ich meine damit insbesondere die einfühlsame Art, in der sich der Autor an die Aufarbeitung der schmerzlichsten Seiten der koreanischen Geschichte wagt. Auch ein solcher Roman ist ein Zeugnis dafür, dass die Kirche ihre Friedensverantwortung wahrnimmt und erkennt, dass sie die Rechtfertigung des Sünders nicht nur verkündet, sondern dass sie diese Rechtfertigung auch für sich selbst annimmt.

Der Begriff des „gerechten Friedens“ verhilft insofern zu einer Präzisierung des Friedensverständnisses, als er die anzustrebende globale Friedensordnung konsequent als eine Ordnung des Rechts versteht als eine Ordnung, so kann man mit Dietrich Bonhoeffer sagen, in der weder ein Zuwenig noch ein Zuviel an Recht und Frieden verwirklicht ist.

Der Begriff des gerechten Friedens verträgt sich nicht mit der Weiterführung einer Lehre vom gerechten Krieg. Diese Abkehr von der Lehre vom gerechten Krieg hat ihren entscheidenden Grund darin, dass selbst die Einschätzung, eine bestimmte politische Situation mache den Einsatz von Gewalt in rechtserhaltender Absicht unvermeidbar, die Gewaltanwendung nicht in sich selbst zu einer ethisch rechtfertigungsfähigen Handlung macht.

2. Der Begriff der Sicherheit - ob er als gemeinsame, als erweiterte oder als menschliche Sicherheit näher bestimmt wird - ist nicht der entscheidende friedenspolitische Grundbegriff, sondern ist dem Begriff des Friedens selbst nachgeordnet. Keinesfalls darf der Sicherheitsbegriff auf die national-egoistische Sicherheitsperspektive einzelner Staaten oder Staatengruppen verengt werden. „Es gibt keinen Frieden auf dem Weg der Sicherheit“ (Dietrich Bonhoeffer). Dies gilt nicht nur, weil es illusionär wäre, an eine absolute Sicherheit im Sinne der Unverwundbarkeit zu glauben; Verletzlichkeit und Verwundbarkeit gehören zum Menschsein vielmehr dazu. Die Utopie einer absoluten Sicherheit ist deshalb gefährlich - und zwar sowohl in friedenspolitischer Hinsicht als auch im Blick auf die innere Sicherheit von Staaten. [11] Jeder ideologischen Absolutsetzung von Sicherheit werden die Kirchen widerstehen; dass Sicherheitspolitik nicht gefährden darf, was sie doch schützen soll nämlich einen Frieden in Freiheit , werden die Kirchen immer wieder einschärfen. Nur in diesem Rahmen werden und können sie auf Sicherheitsbedürfnisse eingehen und zur Überwindung der Angst um die eigene Sicherheit beitragen. Gewissheit und Sicherheit voneinander zu unterscheiden, bildet einen wichtigen theologischen Beitrag zum nüchternen Umgang mit Sicherheit, ihrer Gefährdung wie ihrer Gewährleistung.

3. Charakteristisch für die Entwicklung der evangelischen Friedensethik in den letzten 25 Jahren ist es, dass sie an dem Zusammenhang von Friedensethik und Friedenspolitik festhält. Mit einer Reduzierung der Friedensethik auf allgemeine Prinzipien und der Überantwortung der Friedenspolitik an die praktisch Verantwortlichen findet sie sich nicht ab. Ein Beispiel für beharrliche Einmischung ist das Thema der Abrüstung und der Rüstungsexporte. Den Kirchen ist es gerade an diesem Beispiel aufgegeben, auf eine größere Kohärenz friedensethischer und friedenspolitischer Art zu drängen. [12]

Ähnliche Deutlichkeit ist im Blick auf die Drohung mit Massenvernichtungswaffen anzustreben. In der Denkschrift von 2007 haben wir unzweideutig erklärt: „Aus der Sicht evangelischer Friedensethik kann die Drohung mit Nuklearwaffen heute nicht mehr als Mittel legitimer Selbstverteidigung betrachtet werden.“ [13] Auch wenn aus dieser friedensethischen Position einstweilen noch unterschiedliche friedenspolitische Konsequenzen gezogen werden, wird hiermit doch die Überwindung der nuklearen Abschreckung einhellig als Ziel der Friedenspolitik anerkannt wird. Entsprechend stark beunruhigt uns der Aufbau von neuen Potentialen an Atomwaffen wo immer sich dieser Aufbau vollzieht.

Ebenso bildet die kontinuierliche Weiterentwicklung von Instrumenten der zivilen Konfliktbearbeitung eine klare friedenspolitische Priorität.

4. Wer die Verbindung zwischen Friedensethik und Friedenspolitik festhalten will, muss sich allerdings in kategorischen Urteilen zurückhalten. Gerade die Friedensethik war jedoch traditionell durch ein besonders hohes Maß an einander widersprechenden kategorischen Urteilen geprägt. Das Beispiel einer Ethik der rechtserhaltenden Gewalt zeigt jedoch exemplarisch, dass man in diesem Feld sehr oft über hypothetische ethische Urteile nicht hinauskommt. Denn die ethische Erwägung ist abhängig von der Einschätzung der politischen Lage, von der Frage nach der Handlungsfähigkeit der international autorisierten Instanzen, von der Abschätzung, ob nichtmilitärische Möglichkeiten ausreichend genutzt wurden, oder von dem Urteil darüber, ob der Einsatz rechtserhaltender Gewalt für die Vorbereitung einer neuen Friedensordnung Raum schaffen kann. Wer immer sich auf solche Fragen einlässt, bewegt sich im Bereich hypothetischer Urteile. Er nimmt eine Unsicherheit in Kauf, die zu den untrüglichen Signalen verantwortlichen Handelns gehört. Er bewegt sich im Bereich der Schuldübernahme (Dietrich Bonhoeffer).

Die Kirchen sind gut beraten, in ihrer Friedensethik die Brücke zur Friedenspolitik begehbar zu halten, aber sich nicht unnötig weit in den Bereich solcher hypothetischer Urteile vorzuwagen. Vor allem aber sollen sie nicht hypothetische mit kategorischen Urteilen verwechseln und sich einbilden, dort mit letzter Autorität urteilen zu können, wo unser Wissen bruchstückhaft und unsere Einschätzung zukünftiger Entwicklungen ungewiss ist. Die evangelische Friedensethik leistet gerade dann einen wichtigen Beitrag zur Orientierung, wenn sie die Fähigkeit vermittelt, mit solchen Ungewissheiten umzugehen.

Dafür ist nichts so wichtig wie die Unterscheidung zwischen dem Frieden Gottes und der Arbeit für den irdischen Frieden. Diese Unterscheidung ist der Kern evangelischer Friedensethik.


Fußnoten

[1] Hermann Geyer, in: Kirchenamt der EKD (Hg.), 20 Jahre friedliche Revolution. Materialien für Gottesdienst und Gemeindeveranstaltungen, noch nicht erschienen.

[2] Zur Diskussion über die Denkschrift vgl. zusammenfassend Hans-Richard Reuter, Gerechter Friede! Gerechter Krieg? Die neue Friedensdenkschrift der EKD in der Diskussion, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik 52 (2008), H. 3.

[3] Pointiert gesagt: Die Denkschrift von 1981 bezieht sich in ihrem Titel ausschließlich auf das Phänomen des „irdischen Friedens“, denn nur ihn können Menschen wahren, fördern und erneuern. Erst 2007 kommt die transzendente Dimension des Friedens und treten seine geistlichen Wurzeln programmatisch in das Blickfeld.

[4] Aus Gottes Frieden leben für gerechten Frieden sorgen, S.30.

[5] A.a.O., S.37.

[6] Wolfgang Huber: Rückkehr zur Lehre vom gerechten Krieg? Aktuelle Entwicklungen in der evangelischen Friedensethik, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik 49 (2005) 113-130.

[7] Vgl. hierzu Ernst-Otto Czempiel: „Die Realismusfalle des ‚realistischen’ Paradigmas“, in: Hans Küng/Dieter Senghaas (Hgg.): Friedenspolitik: Ethische Grundlagen internationaler Beziehungen, München/Zürich 2003, S.122-144. Czempiel macht in seinem Beitrag deutlich, dass die sog. „realistische Schule“ den Sachbereich der Sicherheit in den Vordergrund der Friedenspolitik stellt und dabei stets vom „worst case“ aus denkt.

[8] Man kann dies illustrieren an dem vom Bundesministerium der Verteidigung herausgegebenen „Weißbuch zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr“ (Berlin 2006), aber auch an dem im Jahr 2007 verabschiedeten neuen Grundsatzprogramm der Christlich-Demokratischen Union (CDU), das den Titel trägt: „Freiheit und Sicherheit: Grundsätze für Deutschland“. Friedensethisch gesehen muss aber die Debatte über Sicherheitskonzepte dem Begriff des gerechten Friedens untergeordnet werden; sonst wird der Friede sicherheitspolitisch verengt.

[9] Aus Gottes Frieden leben, Ziffer 185, S. 117.

[10] A.a.O., Ziffer 149, S. 95.

[11] Aus Gottes Frieden leben, Ziffer 149, S. 95.

[12] A.a.O., S. 99 ff.

[13] Aus Gottes Frieden leben, S. 103.

Mit freundlicher Erlaubnis der Pressestelle der EKD

 

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Bischof Dr. W. Huber, Berlin