1943-2013: Daniel Strauss in Ulm

Gedenken 2013

 

14. Evangelische Landessynode Württemberg
Biberach, 14. März 2013 (44. Sitzung)

 

Präsidentin Hausding, Dr. Christel:
Liebe Synodale, liebe Mitglieder des Oberkirchenrats, liebe Gäste! Nach diesen freundlichen Grußworten kommen wir zu einem Punkt, der bei uns allen eher Beklommenheit auslösen wird. Morgen jährt sich zum 70. Mal die Deportation der Sinti und Roma aus Baden-Württemberg. Gerade mal drei Synodale aus unseren Reihen haben in ihrem Alter eine 7 vorne dran, also kann sich wohl niemand bewusst an diese Zeit erinnern und aus eigenem Erleben nachempfinden, was es damals bedeutet hat, wenn ein Deportationszug den Stuttgarter Nordbahnhof verließ und Inhaftierte nach Auschwitz-Birkenau verbrachte. Wir wissen aber alle, dass nur die wenigsten überlebt haben.
Der Völkermord an den Juden ist schon aufgrund der Versuche, die Zeit des Dritten Reiches durch Filme und Bücher aufzuarbeiten, den meisten Menschen bewusst. Anders die Verfolgung anderer Bevölkerungsgruppen: Der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik fielen bis 1945 mehr als 500 000 deutsche und europäische Sinti und Roma zum Opfer. Das am 24. Oktober 2012 in Berlin in unmittelbarer Nähe des Reichstagsgebäudes eingeweihte zentrale Denkmal erinnert daran. Ministerpräsident Kretschmann wird morgen zusammen mit Bischof Fürst von der Diözese Rottenburg-Stuttgart und Landesbischof Dr. Fischer aus Baden einen öffentlichen Gedenkgottesdienst in der Kirche St. Eberhard in Stuttgart feiern und eine Gedenkansprache beim Empfang im Neuen Schloss halten. Da wir als Synodale hier gebunden sind, werden Frau Direktorin Rupp den Oberkirchenrat und die Synodalen Daferner und Dr. Kretschmer die Landessynode dort vertreten.
Wir wollen dazu in keiner Weise in Konkurrenz treten und werden deshalb schon heute der Ereignisse vor 70 Jahren gedenken. Herr Daniel Strauß, der Vorsitzende des Verbands Deutscher Sinti und Roma, Landesverband Baden-Württemberg, hat bereits gestern im Foyer Informationstafeln aufgebaut, die wir heute bis 14:00 Uhr ansehen können. Bis zu diesem Zeitpunkt wird er hier bei uns sein. Er steht auch für Gespräche bereit. Herr Strauß, ich darf Sie nun ans Rednerpult bitten.

Daniel Strauß, Mannheim
Sehr geehrte Frau Präsidentin, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, Herr Landrat, Herr Landesbischof, Herr Dekan, liebe Synodale, meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich freue mich, dass ich als Vertreter der Sinti und Roma in Baden-Württemberg heute zu Ihnen sprechen darf. Ich möchte das eingangs mit einem Bibelwort aus Apg 10, Vers. 4 und 35 in der ersten Bibelübersetzung in Romanes, die vom Diakonischen Werk in Marburg herausgegeben wurde, vortragen. (Lesung).
Also: Gott ist nicht parteiisch. Ihm ist in jeder Nation, in jeder Kultur der Mensch, der in Gerechtigkeit wirkt, annehmbar.
Die Frage ist: Warum ist das im Leben so schwierig anzuwenden? Der 70. Jahrestag zur Deportation der deutschen Sinti und Roma bedeutet, dass über 80 % dieser Sinti und Roma katholisch oder evangelisch waren. Wie war es möglich, dass sie aus ihren Gemeinden, aus den Schulen, aus ihren Orten herausgerissen und deportiert wurden? Wie war es möglich, dass es keinen Aufschrei gegeben hat?
Schon 1940 ist an drei Stellen Deutschlands die ersten Familiendeportation organisiert worden, unter anderem am Hohen Asperg, im Mai 1940 noch vor den großen Judendeportationen, die einige Monate später folgten. Auch nicht als es den Auschwitz-Erlass am 16. November 1942 oder die Durchführungsbestimmung im Januar 1943 gegeben hat, und auch nicht, als es am 15. März 1943 dazu kam, dass fast alle restlich im Land lebenden Sinti und Roma nach Auschwitz deportiert wurden.
90 % der deutschen Sinti und Roma haben ihr Leben verloren. Die restlichen 10 % waren vor allen Dingen junge Menschen, die während des Dritten Reiches von einer Ausschulung betroffen waren und aus ihrem Lebensumfeld herausgerissen worden sind.
Ich beschäftige mich eher mit der Nachfolgezeit, und der Herr Landesbischof, so haben wir es vereinbart, geht dann noch etwas auf die historischen Daten ein, während ich mich eher auf die Gegenwart und die Zukunft konzentrieren möchte. Es zeigt sich, dass auch in der Nachkriegszeit leider allzu oft weggeschaut wurde.
Wir haben den Titel Verband Deutscher Sinti und Roma, also nicht Sinti und Roma in Deutschland, sondern wirklich Deutsche Sinti und Roma. Das ist wichtig, um deutlich zu machen: Wir werden zwar häufig als Fremde, als die Anderen, quasi als Exoten wahrgenommen; doch wir sind seit 1995 eine anerkannte Minderheit mit einem Rechtsstatus. Was bedeutet nationale Minderheit? Das bedeutet, dass Sinti und Roma vor der Gründung der Bundesrepublik Deutschland, vor der Gründung der DDR, vor der Gründung der Weimarer Republik, auch vor der Reichsgründung 1871, nämlich während der Zeit des Heiligen Römischen Reiches, schon da waren. Nicht Sinti sind eingewandert, sondern das Staatensystem Deutschlands ist quasi über die Fläche hingekommen.
Vier Minderheiten haben einen besonderen Rechtsstatus als nationale Minderheit. Das sind die Sorben, die Friesen, die Dänische Minderheit in Südschleswig und die Deutschen Sinti und Roma. Das bedeutet Schutz vor Assimilierung. Das bedeutet nicht nur, dass nach dem Grundgesetz jeder Einzelne gleichberechtigt ist, sondern auch, dass jeder einen Anspruch auf Schutz und Förderung ihrer eigenen Identität hat, auf Förderung der Sprache und Förderung der Kultur. So ist Romanes, die Sprache der Sinti, als deutsche Minderheitensprache nach der Europäischen Sprachencharta anerkannt. 120 Jahre, bevor es die erste Lutherbibel gegeben hat, waren Sinti schon Generationen als Christen im deutschsprachigen Raum. Ich sage das, weil immer noch hartnäckig daran gezweifelt wird, dass Sinti Christen sind. Häufig heißt es: Sie sind zwar Christen, aber, oder: Sie sind getauft, aber, Sie finden das noch heute in vielen Lexika.
Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen. So die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Inwiefern ist dies heute Realität? Trotz dieser edlen Absichten sind Vorurteile und Diskriminierung nach wie vor traurige Realität. Sie sind in der Tat ein Spiegelbild unserer Zeit.
Dennoch ist die Lage nicht aussichtslos. Man kann Vorurteile kenntlich machen. Man sie verurteilen, und man kann Gegenstrategien entwickeln. Das ist unser Anliegen, und ich hoffe, dass ich bei Ihnen Mitstreiter dafür finde. Man muss sich allerdings eingestehen, dass jeder Mensch zu Vorurteilen neigt. Erst wenn man sich das selbst eingesteht, kann man sich dem Thema zuwenden. Das ist meine persönliche Überzeugung. Niemand, der über Intelligenz verfügt, ist dagegen immun, Vorurteile zu erheben.
Vorurteile abzubauen erfordert in der Regel, dass man sich des Problems bewusst ist und entschieden dagegen angeht. Der gesellschaftliche Antiziganismus ist seit Jahrhunderten nicht nur relevant, sondern fassbar und grenzt aus. Doch wo gibt es eine gesellschaftliche Antiziganismusforschung, wie sie etwa bei der Antisemitismusforschung oder der Islamforschung der Fall ist?
Etwa 68 % möchten nach einer repräsentativen Studie nicht neben Sinti und Roma leben oder wohnen. Welche Auswirkungen hat das auf die Wohnsituation? Wie kann man dem begegnen?
Anders zeigen sich Vorurteile in seiner Struktur. In seinem Buch „Die Natur des Vorurteils“ zählt Gordon W. Allport fünf Stufen feindseliger Handlungen auf, denen Vorurteile zugrunde liegen. Zuerst die Verleumdung, jemand spricht abschätzig über eine Gruppe, die er nicht leiden kann, als zweites die Vermeidung, er vermeidet die Berührung mit Angehörigen der abgelehnten Gruppe, als drittes die Diskriminierung, er möchte quasi Mitglieder der verleumdeten Gruppe vom Zugang zu bestimmten Berufen, Wohngegenden, Bildung oder sozialen Diensten ausschließen. Die vierte Stufe ist die körperliche Gewaltanwendung und die fünfte Stufe die Vernichtung.
Auf welcher der benannten Stufen befinden sich Sinti und Roma heute? Wie sieht ihre Lebenswirklichkeit aus? Aus einer von mir im Dezember letzten Jahr vorgelegten Studie zum gesellschaftlichen Antiziganismus, in der aktuelle Ergebnisse zusammen gefasst wurden und die dem Ausschuss für Menschenrechte im Bundestag vorgelegt wurde, möchte ich drei Zitate herausheben.
Eine der aktuellsten Studien mit drei Items, zugleich differenziert zu dem Themenfeld, wurde 2011 im Rahmen einer Langzeitforschung Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit vorgenommen. Dabei wurden drei Fragen gestellt. Bei dieser repräsentativen Umfrage stimmten 40,1 % der Befragten der Aussage: Ich hätte Probleme damit, wenn sich Sinti und Roma in meiner Gegend aufhalten, zu.
Auch der Aussage, Sinti und Roma sollen aus den Innenstädten verbannt werden, die sogar eine Handlungsaufforderung beinhaltet, stimmten 27,7 % zu. Sogar 44,2 % stimmten der offen antiziganistischen Zuschreibung, Sinti und Roma neigen zur Kriminalität, zu. Ich stelle mir die Frage, wenn diese Aussagen des Heilmeyer Instituts wissenschaftlich so repräsentativ sind, wenn ich jetzt die Gruppe austauschen würde, ob es nicht einen anderen Aufschrei gäbe, als er jetzt gerade ist. Ich versuche, diese Ergebnisse nochmal anders zu bewerten, und ich ersetze Sinti und Roma durch Juden: Bei dieser repräsentativen Umfrage, stimmten 40,1 % der Befragten zu, ich hätte Probleme damit, wenn sich Juden in meiner Gegend aufhalten. Können Sie sich das vorstellen? Oder: Juden sollen aus den Innenstädten verbannt werden. Dieser Handlungsaufforderung stimmten 27,7 % zu. Ist das denkbar? 44,0 % stimmten der offenen antisemitischen Zuschreibung, Juden neigen zur Kriminalität zu. Ist das denkbar? Es würde einen Aufschrei geben. Wir reden hier von einer alt eingesessenen autochthonen nationalen Minderheit, die seit Generationen Christen sind. Niemand schreit auf. Man nimmt es wahr. Mehr als drei Viertel der befragten deutschen Sinti und Roma geben deshalb auch in einer Umfrage an, häufig diskriminiert zu werden. Stereotype antiziganistische Bilder in der Literatur, in Film, in Fernsehen und in den Medien sind omnipräsent, nur in wenigen Einzelfällen werden sie hinterfragt. Es kam in Deutschland in den letzten vier Jahren im Schnitt jährlich zu antiziganistisch motivierten schweren Gewalttaten, darunter zu Brandanschlägen und Misshandlungen. Antiziganistische Äußerungen finden sich bei Politikern und Politikerinnen auch der etablierten Parteien. Eine antiziganistische Wahrnehmung von Konflikten führte auch in den Gründung von Bürger- und Anwohnerinitiativen, die sich gegen den Zuzug von EU-Bürgern mit Roma-Hintergrund oder gegen die Unterbringung von Flüchtlingen mit Roma- Hintergrund von EU-Beitrittskandidatenstaaten richten. Roma und Sinti diskriminierende Strukturen finden sich im Bereich der Bildung wie auch im Bereich der Arbeit, Beschäftigung und Wohnen, wie die Ausstellung im Foyer deutlich macht. Auch in Deutschland, auch in Baden, auch in Württemberg.
Viele Wohnsiedlungen, die während des Dritten Reiches entstanden sind, indem man Sinti zwangsangesiedelt hat in einer konzentrierten Form, sind nach 1945 weiterhin als Wohnquartierte der zurückgekehrten Sinti und Roma genutzt worden und sind bis auf den heutigen Tag, einige Steinwürfe weit weg sozusagen, immer noch das Wohnquartier von vielen Sinti und Roma.
Man muss also den Ursachen, und darum bitte ich Sie, mit anzupacken, und den Vorurteilen auf den Grund gehen. Warum braucht man das sogenannte Zigeunerbild? Wer hat etwas davon? Warum muss man ein solches weiterhin aufrechterhalten? Vorurteile führen dazu, dass man Tatsachen verdreht, falsch auslegt oder einfach vom Tisch wischt. Oft beginnt das schon in der Familie mit belanglosen aber falschen Wertvorstellungen. Vorurteile können ganz bewusst auch rassistisch oder fremdenfeindlich geschürt werden, Nationalismus, auch falsche religiöse Vorstellungen sind ebenfalls ein idealer Nährboden. Genauso übertriebener Stolz. In dem Buch „Die Natur des Vorurteils“ wird gesagt, wenn Menschen ihre Religion zur Erreichung von Macht ansehen, Wohlstand und jegliche Eigeninteressen nutzen, so entsteht unvermeidlich Abscheuliches. Hier verschmelzen Religion und Vorurteile. Besonders überraschend sei dabei, mit welcher Leichtigkeit fromme Menschen von Religiosität zu Vorurteilen übergehen. Rassentrennung in Kirchen, religiös motivierte Feindseligkeiten und Terroranschläge im Namen Gottes bestätigen das.
Meine Damen und Herren, diskriminiert zu werden, ist eine demütigende Erfahrung. Menschen werden wegen ihrer Abstammung, Hautfarbe, ihrer religiösen Überzeugung, beruflichen Situation, wegen des Geschlechts oder auch nur wegen ihres Alters diskriminiert oder unfair behandelt. Viele Opfer von Vorurteilen leben deshalb in ständiger Angst, wenn sie auch auf eine Gruppe von Menschen treffen oder einkaufen gehen, in eine neue Schule gehen oder zu einer Feier eingeladen sind. Sie bekommen ein beklemmendes Gefühl. Manche Opfer von Vorurteilen und Diskriminierung erhalten eine schlechtere medizinische Versorgung, sie haben geringere Bildungschancen. Am Beispiel der Sinti ist das sehr deutlich.
Während z. B. in der Nachkriegsgeschichte die Bildungssituation der übrigen Gesellschaft sich wesentlich verbessert hat, wurde die Generation, die als Analphabeten produziert wurde, nicht die überlebenden jugendlichen Sinti und Roma, alleingelassen. Die, die überlebt haben, waren von einem Schulverbot betroffen, waren produzierte Analphabeten, die das Zigeunerbild des Ungelehrten, Primitiven, Ungebildeten bestätigt haben. Die Kinder von ihnen, in unserer repräsentativen Umfrage, waren 39 %, die niemals zur Schule gegangen sind. Bei der nachfolgenden Generation, den 24 bis 50-jährigen, waren es immer noch 18,8 %. In 2011, die Generation von 10 bis 24-jährigen, waren es immer noch 9,4 %. Es gab keine Bildungsförderung, es gab leider keine vergleichbare Organisation wie eine christlich-jüdische Einrichtung, die sich um Aussöhnung bemüht hat. Sie wurden alleingelassen. Die Problematik ist heute noch so. Nicht mehr in der gleichen Quantität, aber die Qualität ist ähnlich. Manche Opfer von Vorurteilen und von Diskriminierung erhalten tatsächlich keinen Zugang zu den normalen Bereichen, die man sich wünscht, wie Wohnen, Arbeit und so weiter. Selbst Gesetze gegen Diskriminierung können Borniertheit und Intoleranz nicht aus der Welt schaffen. Eine ehemalige Hochkommissarin für Menschenrechte bei den Vereinten Nationen sagte, 60 Jahre nach der Annahme der Allgemeinen Erklärung für Menschenrechte werde die Prinzipien der Gleichberechtigung und Nichtdiskriminierung bei weitem nicht überall umgesetzt. In einer Zeit, in der die Zusammensetzung der Bevölkerung in vielen Ländern durch Einwanderer und durch Flüchtlinge entscheidend verändert wird, ist das sicher sehr besorgniserregend.
Es gibt aber auch positive Entwicklungen und vertrauensbildende Vorhaben unseres Landes hier in Baden- Württemberg. Es ist ermutigend, zu sehen, wie das Land das Gedenken an die NS-Zeit aufrecht erhält, mit welcher Ernsthaftigkeit und Empathie sie dies gemeinsam mit den Opfergruppen in einer Vorbereitungsgruppe, die regelmäßig im Landtag tagt, teilt. Darüber hinaus setzt es aber auch Zeichen für die Zukunft wie kaum ein anderes Bundesland in Deutschland. Ich denke dabei an die Aufnahme der Rechte der Behinderten in der Landesverfassung, den Abschluss eines Staatsvertrages mit den Israelitischen Religionsgemeinschaften Badens und Württembergs und den Bemühungen, im Jahr 2013 zu einer vergleichbaren vertraglichen Vereinbarung mit den Deutschen Sinti und Roma zu gelangen.
Es ist nicht allzu lange her, wenige Woche im Grunde genommen, da jährte sich am 27. Januar 2013 die Befreiung von Auschwitz.
Dieser Gedenktag, die zentrale Gedenkveranstaltung fand in Mannheim unter Beteiligung des Landtagspräsidenten statt. Die Opfergruppen bestreiten immer ein Jahr eine besondere Gruppe, die im Vordergrund steht. In diesem Jahr waren es Sinti und Roma. Ich hatte die Gelegenheit, mich bei den Opfergruppen und auch beim Land zu bedanken.
Mir kamen dabei einige Gedanken, zum Beispiel bei den politisch Verfolgten. Ich habe verstanden, dass sie widerständig waren, sie waren aufseiten der Minderheit. In der Nachkriegsgeschichte, durch die Gründung der Verfolgten des Naziregimes, waren sie die Leute, die sich für Entschädigungen eingesetzt haben, auch für die Sinti und Roma. Ich fragte mich: Wie haben wohl mein Vater und meine Verwandtschaft es empfunden in der damaligen Zeit, die selbst Christ, katholisch oder evangelisch, waren und diese Unterstützung nicht von ihren Glaubensgeschwistern wahrgenommen haben, sondern eher mit der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) ihre Anträge versucht haben zu formulieren? Wie mag es ihnen gegangen sein? Ich habe mich deshalb entsprechend bei ihnen bedankt.
Ein weiterer Dank ging an die Israelitische Religionsgemeinschaft Baden und Württembergs. Juden, Sinti und Roma sind nicht nur wegen ihrer biologischen Existenz sozusagen mit dem gleichen Grundsatz vernichtet worden. Sie haben sich auch gegenseitig oft unterstützt. Auch in der Nachkriegsgeschichte war für die Anerkennung des Völkermords, der erstmals 1982 politisch anerkannt wurde, keine andere Glaubensgemeinschaft so an unserer Seite stehend wie die jüdische Gemeinde. Mir sind Namen eingefallen wie Heinz Galinski und Ignatz Bubis, die dafür gekämpft haben, dass der Völkermord an den Sinti und Roma anerkannt wird. Ich frage mich für die Menschen, die in den 80er Jahren bewusst gelebt haben, unter den Sinti klar kamen, dass ihre christlichen Glaubensgeschwister weniger unterstützend an ihrer Seite standen.
Eine weitere Opfergruppe, die als einzige religiöse Gruppe in diesem Landtagsgremium, in der Vorbereitungsgruppe sitzt, sind die Jehovas Zeugen. Die haben aufgrund ihrer christlichen Überzeugung, alle Menschen seien gleich an Wert, wie ich eingangs das Bibelwort verstanden habe, ein Zeichen gesetzt. Der Historiker Detlef Gabel hat ein Buch geschrieben. Als Überschrift steht: Widerstand aus christlicher Überzeugung.
Ich habe mich bei dieser Gruppe bedankt, dass sie als einzige Religionsgemeinschaft geschlossen, sowohl von Kirchenleitung bis zum einzelnen Glaubensmitglied, sich nicht an der Ermordung meiner Volksgruppe oder meiner Familie beteiligt hat. Sie waren sogar bereit, für ihre Überzeugung selbst ins Konzentrationslager deportiert zu werden. Ich wusste nicht, dass bis 1939 die größte Häftlingsgruppe in allen Konzentrationslager diese Zeugen Jehovas waren.
Noch erstaunter war ich, dass eine geringe Anzahl von ihnen nur ermordet wurde. Die waren inhaftiert aber die wenigsten sind ermordet worden, sind zum Opfer gefallen. Dennoch haben sie sozusagen gezeigt, dass es funktioniert. Warum hat das bei ihren Glaubensgeschwistern nicht so funktioniert, derer, die auch christlich waren, die bei der Ausschulung von Sinti und Roma einfach mitgemacht haben, obwohl sie die Glaubensgeschwister sind? Oder der Dorfpfarrer, der Bürgermeister oder der Polizeibeamte, die sich nicht engagiert haben. In einem Fall gab es das. Es gab einen Polizeibeamten in Wuppertal, der die Deportationslisten gesehen und sie einfach in den Mülleimer geworfen hat. Das hat dieser Gruppe 18 Monate weiteres Leben gebracht. Dann kamen sie allerdings später weg. Oder es gab einen Bürgermeister, der gesagt hat: Das sind unserer Bürger, die werden nicht deportiert. Ein Bürgermeister aus Ludwigshafen ist nach Hohen Asperg gefahren und hat den Karl Wagner direkt wieder herausgeholt. Er hat gesagt: Der arbeitet bei mir, der ist kriegswichtig, den nehme ich wieder mit. Er hat ihn gerettet. Das gab es im Einzelfall, aber leider nicht in der Größe.
Eine andere Gruppe war der Bund der Jenischen. Der Bund der Jenischen ist eine Gruppe, mit der wir etwas gemeinsam haben. Die sind keine Sinti und Roma, aber sie entsprechen dem Bild des Zigeuners. Sie sollten nicht nur die biologische Existenz der Sozialisten vernichten, sondern das, was sie als Zigeuner erkennen lässt. Dazu gehörten damals die Jenischen, die Schausteller, die Zirkusleute, die Korbmacher, die Korbflechter, die Eisenschmiede. Das war damals eine soziolinguistische Gruppe. Die wurden als Zigeuner erkannt und waren die ersten, die deportiert wurden, obwohl sie gar keine Sinti waren. Aber man hat sie als solche erkannt und als solche wahrgenommen, übrigens alle zu 100 % christlichen Glaubens.
Bis zum heutigen Tag gibt es dieser Gruppe gegenüber keine Zuwendung. Sinti und Roma, wir haben uns dieses Themas angenommen und haben sie in diesen Arbeitskreis integriert und haben uns dafür eingesetzt, dass es bald auch auf Landesebene eine Gedenkveranstaltung für diese Leute gibt, die davon betroffen waren. Ich finde es ermutigend, dass ich heute eingeladen worden bin. Ich bedanke mich recht herzlich dafür. Ich weiß, wir brauchen Zeit. Wir sind noch nicht so ganz lange bei der Sache, ca. 2 000 Jahre, aber wir haben 37 Jahre gebraucht, um den Völkermord anerkannt zu bekommen. Wir haben weitere 30 Jahre gebraucht, bis wir das erste nationale Denkmal für diesen Völkermord haben. Ich freue mich, dass ich heute möglicherweise der erste bin, der vor einer Synode sprechen darf. Ein herzliches Dankeschön dafür. (Beifall)

Präsidentin Hausding, Dr. Christel:
Vielen Dank, Herr Strauß, dass Sie uns auf diese eindrückliche Weise Innenansichten gezeigt haben, wie man sich mit diskriminierenden Erfahrungen gedemütigt und in Angst versetzt fühlt, und Sie uns in einer guten Weise ein Licht aufgesteckt haben, dass auch eine Selbsterforschung bei uns angestoßen wurde, wo wir Vorurteile haben, vielleicht nicht Ihrer Gruppe gegenüber, sondern ganz anderen Menschen und Gruppen gegenüber. Wir wollen da sensibel, nachdenklich und einfühlsam sein. Herzlichen Dank für Ihr Wort.