2012 Hofgeismar: Vom Umgang mit Krisen

Ev. Akademie, 10.- 12. April 2012

Prof. Dr. Gerhard Marcel Martin

"Apocalypse now" Vom Umgang mit Krisen

Persönlich - biblisch - rfeligionsgeschichtlich
Meditative, bibliodamatische und reflexive Impulse

(Die hier wiedergegebene Kurzdokumentation des Beitrags von Pprof. Dr. Gerhard Marcel Martin auf der Tagung "Ein Jahr nach der Katastriophe. Ein Neuer Blick auf Japan" am 11. Appril 2012 wurde uns freundlicher weise von Prof. Martin überlassen. Alle Rechte des Textes liegen aber beim Verfasser!)

Kurzdokumentation des Beitrags von Prof. Dr. Gerhard Marcel Martin
auf der Tagung „Ein Jahr nach der Katastrophe. Ein neuer Blick auf Japan"
in der Evangelischen Akademie Hofgeismar am 11. April 2012
(alle Rechte des Textes beim Verfasser)

„Apocalypse now" Vom Umgang mit Krisen
Persönlich – biblisch – religionsgeschichtlich
Meditative, bibliodramatische und reflexive Impulse

Vor diesem Beitrag waren Deutungs- und Bewältigungsversuche aus dem Umfeld japanischer Religionskulturen und christlicher Theologie vorgetragen worden. Im Folgenden werden die wichtigsten Gedankenimpulse dokumentiert, die dabei helfen sollten, diese Deutungs- und Bewältigungsversuche im Kontext der neutestamentlichen „Offenbarung des Johannes", aber darüber hinaus auch im Spiegel eines größeren Suchrasters religiöser Grundtypen positionieren und vergleichen zu können. Auf der Gestaltungsebene hinzu kamen Lockerungsübungen, Übungen des lebendigen Atmens und des standhaften, aber nicht erstarrten Stehens, eine Großgruppen Skulpturarbeit zum Begriffs- und Vorstellungsbereich „Reich (Gottes)" und eine Visualisierungsübungen auf der Basis der Visionsbeschreibung in Offenbarung 4, 1-8. („Reich" ist eine zentrale positive Erwartungsgröße in der „Offenbarung" – von der Selbstvorstellung des Schreibers in Off.1, 9 angefangen: „Ich, Johannes, euer Bruder und Mitgenosse in der Bedrängnis, im Reich und im Ausharren bei Jesus ...")

Existenziale Theologie: Anruf, Orientierung und Rettung

Existenziale Theologie bringt theologische und religionswissenschaftliche Forschungen in Verbindung mit Ansätzen der neueren Existenzphilosophie. Philosophie und Theologie sind und bleiben nämlich – bei allem akademischen Anspruch und bei allem Recht auf Distanz und Objektivität – existenz-geprägt und existenz-begründet.

Man kann nicht „über" Gott reden, ohne den „Gegenstand", um den es geht, ohne den Vollzug, der mit dieser Rede notwendig verbunden ist, zu verlieren. In diesem Sinn kann Theologie nicht zu einer Ontologie oder zu einer rein begrifflichen (dabei möglicherweise hoch attraktiven) Spekulation werden. Spirituell und oft auch grammatisch zutreffend lässt sich formulieren: In Verbformen kann von „Gott" eigentlich nur in der 1. und der 2. Person die Rede sein – im Ich und im Du (und vielleicht auch dies nur in beiden zugleich, in Relation zueinander). Gott offenbart sich in der Ich-Rede und spricht den Menschen mit Du/Ihr an. Der Mensch spricht Gott im Gebet mit Du an und bekennt und bitten mit Ich/Wir. Entsprechend gilt für die grammatischen „Fälle" (lateinisch: casus), in denen ein Substantiv oder ein Name dekliniert wird: Für die Gottes-Rede ist zunächst und zumeist nur der Vokativ, der 6. Fall, der Fall der Anrede und des Anrufs angemessen:

„Inmitten der Gemeinde will ich dich preisen." (Psalm 22, 23)
Aber auch – in demselben Psalm und in der Passion Jesu:
„Mein Gott, warum hast du mich verlassen?" (Psalm 22,2; Matthäus 27,46)

„Orientierung" meint kognitive Klarheit genauso wie Verhaltensklarheit in allen Lebensbereichen und schließlich deutliche Wahrnehmung und Strukturierung von Gefühlsregungen wie Liebe, Hass und Barmherzigkeit.

Während in der „Orientierung" zumeist Lebensmuster des Alltags und der geschichtlichen Kontinuität im Blick sind, wird in der Kategorie „Rettung" eher das Katastrophische thematisiert. „Rettung" ist dramatischer als „Orientierung" und wird in lebensbedrohenden Situationen gesucht. In christlich dogmatischer Sprache gehört das Wort „Rettung" in die „Soteriologie", in die Lehre vom „Heil", das Gott den Menschen und der ganzen Schöpfung nach dem Bruch der fraglosen Verbundenheit zwischen ihm und den Menschen, außerhalb des Paradieses des Anfangs, also „jenseits von Eden" (1Mose 1-3) zuteil werden lässt. In der „Rettung" geht es um die Grunddynamik und das Ziel vieler Religionen: um den Weg aus der Heillosigkeit ins „Heil", aus der Dunkelheit und der Todesbedrohung ins Licht und in unangefochtenes Leben, das sich frei entfalten kann. Dieses „Heil" meint reale körperliche, aber auch geistige Befreiung aus Versklavung und aus Fesselungen aller Art. Die christliche Lehre vom „Heil" ist nicht einzig zentriert auf die Vorstellung von einem Sühnopfer für menschliche Verfehlungen.1 In dem zentralen Gebet der Christenheit, im „Vater unser", wird – was das umfassende „Heil" anbetrifft – darum gebetet, dass Gottes Name geheiligt wird und dass sein Wille geschieht. Weiter geht es um das Kommen des „Reiches", um die Gabe des täglichen Brotes, um die Freiheit von Schuld und Schulden und um die Erlösung von dem Bösen (Matthäus 6, 9-13).

Apokalyptik, Messianismus, Weisheit und Mystik

Für eine kritische Theologie und für eine kritische Religionswissenschaft scheint es mir ausgesprochen sinnvoll – jedenfalls in westlichen Traditionen – zwischen den vier Größen Apokalyptik und Messianismus, Weisheit und Mystik zu unterscheiden. Sie sind verbunden mit verschiedenen, jeweils typischen literarischen Gattungen, mit verschiedener sozialer und kultisch-religiöser Praxis, mit verschiedenen Profilen und Interessen, auch mit unterschiedlichen Theorieansätzen. Alle vier Typen finden sich in verschiedenen historischen Strömungen, die bisweilen gleich-zeitig, nebeneinander existieren, sich manchmal aber auch nacheinander entwickeln, ihren Höhepunkt haben und dann wieder in den Hintergrund treten.

Apokalyptik ist befasst mit den weitesten Raum- und Zeitmaßen, mit der Totalität der Räume und Zeiten, noch über diese Weltzeit und diesen Kosmos hinaus – hin zu einer „neuen Schöpfung" (2Korinther 5,17; Offenbarung 21,1: „Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde..."). „Angesichts einer desaströsen Gegenwart, zumeist verbunden mit einem realen institutionellen Machtverlust, wird das Geschehen der Endzeit, des Weltuntergangs und der Welterneuerung thematisiert. Dabei kann sich das Katastrophische in allen Bereichen des kosmischen, natürlichen, sozialen und religiösen Lebens zeigen. Der Verfall ist umfassend und unaufhaltsam. Restitution oder eine völlig neue Welt sind nur durch einen finalen Kampf zwischen dem Guten und dem Bösen möglich."2

Zentrales Thema der Apokalyptik ist das Drama der Endzeit und das Ende der Zeit: „Es wird keine Zeit mehr sein." (Offenbarung 10,6). Darin und damit gibt die Apokalyptik auch Verstehens- und Handlungsanweisungen für die Gegenwart, etwa: „auszuharren bei Jesus" und die „Liebe nicht erkalten" zu lassen, selbst wenn „die Gesetzesverachtung überhand nimmt" (Offenbarung 1,9; Matthäus 23,12). Es gilt, bewusst, angefochten und wach in der „Zeit, die bleibt" (Giorgio Agamben3), in der Rest- und Endzeit zu leben.

Die dringlichste apokalyptische „Anrufung" finde ich in dem Gebet der Seelen der Märtyrer unter dem Altar, den der Visionär Johannes in einer Entrückung im Himmel sieht: „Wie lange, heiliger und wahrhaftiger Herr, richtest du nicht und rächst unser Blut nicht an denen, die auf Erden wohnen?" (Offenbarung 6,10) Es ist unübersehbar: Reale Rettung steht aus und ist allenfalls fest zugesagt. Sie ist Gegenstand weitester Hoffnung und allenfalls im visionären Bereich (im Himmel) präsent. (sog. Himmelsreisen und Thronvisionen)

Der Messianismus ist interessiert an radikalen heilvollen Veränderungen in, nicht jenseits von Raum und Zeit. Die Erwartung ist eine festliche Verdichtung von Zeiten und Räumen. Auch diese Erwartung von Rettung hat eine dramatische Dynamik, rechnet aber mit einem positiven innerweltlichen Veränderungsprozess, der schon in der Gegenwart wirksam ist. Gott ist der liebende „Vater", der mit diesem recht persönlichen, jedenfalls nicht nur hoheitsvollen Titel angerufen werden kann, und der Leben in Fülle schenkt. Zentrales Erwartungsbild ist das Festmahl, bei dem alle am, keiner mehr unter oder neben dem Tisch sitzt.4

Zentraler messianischer Text der Anrufung ist das „Vater unser", das mit der Bitte um das Kommen des Reiches einsetzt (Matthäus 6, 9-13). Ein kurzer Kommentar zur Kategorie des „Reiches": Eine zentrale Raumgröße jüdischer und christlicher Überlieferung ist das „Reich der Himmel" / „Reich Gottes" (hebräisch: malkût; griechisch: basileia). Es meint politisch öffentlich und oft auch persönlich intim die Gegenwart und den Machtbereich Gottes in der Welt und in den Herzen der Menschen. Darin kann die Summe messianischer Hoffnung zum Ausdruck kommen.

Menschen rufen Gott als Vater an. In den Evangelien wird aber auch Jesus immer wieder um Hilfe angerufen, noch von einem, der mit ihm gekreuzigt wird: „Gedenke meiner ..." (Lukas 23,42). Freilich: Aus dem „Hosianna dem Sohne Davids. Gepriesen sei, der da kommt im Namen des Herrn!", das ihm die Menschenmenge beim Einzug in Jerusalem entgegen ruft, wird bald ein „Gekreuzigt soll er werden." (Matthäus 21,9; 27,22). Im Drama vom Tod Jesu und den Erscheinungen Jesu nach seinem Tod kippt messianische Erwartung um in apokalyptisches Geschehen (Matthäus 27; 28).

Die theologische und lebenspraktische Tradition der Weisheit hat ein durchaus anderes, sehr viel weniger dramatisches Zeit- und Raumkonzept. Sie gibt Orientierung dadurch, dass sie die verschiedenen Lebenssituationen und Lebenszeiten benennt und zu unterscheiden lehrt. „Für alles gibt es eine Zeit – Zeit für jedes Vorhaben unter dem Himmel: Zeit zu gebären und Zeit zu sterben, Zeit zu pflanzen und Zeit auszureißen ..." (Prediger 3,1f.) Ihre umfassendste Ortsangabe bzw. Ortszuweisung ist: „unter der Sonne" / „unter dem Himmel".

Fragt man nach dem Anruf in der Weisheitstheologie, stößt man wohl zentral auf den Ruf der göttlichen Weisheit in dem alttestamentlichen apokryphen Buch Jesus Sirach (bes. im 24. Kapitel). Dieser Ruf ist in der Jesusüberlieferung in einem eher messianischen Kontext aufgenommen worden ist: „Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, so will ich euch Ruhe geben. Nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir, denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen." (Matthäus 11, 28f.)

Mag die Stimme der göttlichen Weisheit die Menschen an-rufen. Im „Prediger" wird nicht zurückgerufen; eher führt der Verfasser religiös qualifizierte Selbstgespräche „unter der Sonne". Aber die Problematik des Anrufs in der theologischen Weisheit geht noch darüber hinaus. Denn auch das Buch Hiob gehört zu dieser literarischen Gattung. Hier stößt das Konzept der Weisheitstheologie an seine Grenzen. Angesichts von stärksten, nicht selbst verschuldeten Schicksalsschlägen streitet Hiob mit seinen Freunden, die ihn trösten und ermahnen wollen. Hiob schreit und fragt in einen stummen Himmel hinein. Wohl erst in einem sekundären Schluss des Hiobbuches stößt man auf Reden Gottes und auf eine Antwort Hiobs, die freilich ausdrücklich in seinem Schweigen enden. (Hiob 38-42)

Mystik transzendiert alle Raum- und Zeitvorstellungen. Sie relativiert alle anderen Religionstypen mit ihren spezifischen Orientierungsangeboten. Geht in der Apokalyptik die Welt äußerlich unter, so gehen in der Mystik Grundgegebenheiten alltäglicher Erfahrung – etwa die von Raum, Zeit und Kausalität, von Ich-Bewusstsein und Gottesvorstellungen – innen unter. Wobei in radikaler religiöser Erfahrung „innen" und „außen" oft ohnehin nicht mehr wirklich zu trennen sind.

„Mystische Erfahrung kann sich spontan ereignen, aber auch über spirituelle ‚Techniken' in Gang kommen. Die Palette der Erscheinungsweisen der Mystik ist sehr breit. So wird in der Forschung immer wieder zwischen Gottes-, Seinsmystik und Christusmystik unterschieden. Innerhalb der Christusmystik gibt es noch einmal sehr verschiedene Profile von Brautmystik einerseits, von Passions- und Kreuzesmystik auf der anderen Seite. Verlust, die ‚dunkle Nacht der Seele' (Johannes vom Kreuz), identifikatorische Nachfolge im Leiden können dann in den einen Spielarten der Mystik genauso im Fokus sein wie Glück der Nähe und Vereinigung in anderen. Versucht man in diesen verschiedenen Erscheinungsbildern eine Bewegungsrichtung, Prozessschritte zu finden, mag die Zusammenschau des mittelalterlichen Mystikers Johannes Tauler hilfreich sein: ‚Ein gelassener Mensch muss entbildet werden von der Kreatur, gebildet werden mit Christus, und überbildet in der Gottheit.'"5

Die „Rettung", das besondere „Heil", das die Mystik kennt und immer wieder zu erreichen sucht, besteht in dem Prozess unaufhaltsamer Transzendierung. Entsprechend mag es auf dem Weg der Mystik noch das Gebet geben. Am Ziel stehen die wechselseitige Namenlosigkeit und ein Schweigen, das kein Verstummen ist und darum eine ganz andere Qualität als das Schweigen Hiobs und das Schweigen Gottes im Hiobbuch hat. Der Mensch ruft nicht mehr Gott. Gott ruft nicht mehr den Menschen. Anruf wäre ja noch ein Anzeichen für Getrenntheit. In der mystischen Vereinigung (lateinisch: unio) aber, die jenseits aller Sprache ist, gibt es nichts mehr, das überbrückt werden oder in einem personalen Dialog gehalten werden müsste.

Der Weg der Mystik ist ein Weg ins Weglose, ins Abgründige – bis dahin, dass man so weit zurück geht, dass man auch den Gott in Raum und Zeit, alle Gottesvorstellungen, die Gotteswelten, die Gotteswünsche, die Gottesphantasien und den Begriff „Gott" lassen muss. Es folgt ein längeres Zitat aus einer Predigt Meister Eckeharts zu Matthäus 5,3 („Selig sind die Armen im Geiste, das Himmelreich ist ihrer."):

„ ... in dieser Armut erlangt der Mensch das ewige Sein (wieder), das er gewesen ist und das er jetzt ist und das er ewiglich bleiben wird." Ich bin „ungeboren, und nach der Weise meiner Ungeborenheit kann ich niemals sterben. Nach der Weise meiner Ungeborenheit bin ich ewig gewesen und bin ich jetzt und werde ich ewiglich bleiben."6 Hier ist von einem radikal jenseitigen Ort, jenseits aller Bilder, auch jenseits aller Gottesvorstellungen, ja noch jenseits von „Gott" die Rede.

In jüdischer und christlicher Bibel-Überlieferung finden sich alle vier Grundtypen in verschiedensten Kombinationen und Abgrenzungen zueinander – am wenigsten entwickelt freilich in Bezug auf mystische Überlieferung. Faktum ist aber die bleibende Pluralität der Konzepte, die Vielfalt der Möglichkeiten in ihnen und die jeweilige Profilbildung. Eine zentrale Frage lautet: Wie entsteht aus der Fülle der Möglichkeiten eine jeweilige Verbindlichkeit? Wieso sind die einen – jedenfalls vorwiegend – dann doch Apokalyptiker, während andere eher eine messianische Lebenseinstellung haben? Wieso ist manchmal der Weg der Weisheit, manchmal der Weg der Mystik deutlich im Fokus?

Die Antwort muss mit konkreten Zeitanalysen verbunden sein. Wie alle anderen gesellschaftlichen Subsysteme auch bewegt sich Religion in einem sozialen und politischen Gesamtklima. Dieses Klima kann z.B. von Enttäuschung, Ohnmacht und Perspektivlosigkeit geprägt sein, andererseits aber auch von Hoffnung und Aufbruch. Ebenfalls müssen die Grundeinstellungen, das Schicksal und die Lebensperspektiven, oft auch das Lebensalter von einzelnen oder auch von Gruppen mit berücksichtigt werden. In den genannten vier verschiedenen Grundmodellen kommen sicherlich sehr verschiedene Lebens- und Glaubenserfahrungen zum Ausdruck. Ich möchte versuchen, dies kurz zu konkretisieren:

Apokalyptik steht in Verbindung mit der Wahrnehmung von Gottesferne und mit der öffentlichen und persönlichen Hoffnung, die sich auf ein Jenseits zu diesem Leben und zu dieser Weltzeit ausrichtet.

Messianisch geht es trotz aller Krisen und Spannungen um die Erfahrung gegenwärtiger Lebensfülle, gegenwärtigen Segens, gegenwärtiger Güte Gottes und um die Gewissheit von deren Fortdauer und Steigerung in die Zukunft hinein.

Weisheit ist jedenfalls verbunden mit umfassender innerweltlicher Lebenserfahrung, die oft positiv, bisweilen aber auch skeptisch vorgetragen werden kann, weil für sie zu dem, was schon immer „unter der Sonne" geschieht, keine Alternative in Sicht ist.

Mystik hat ein unendlich überschießendes Ungenügen an allem Endlichen, sie transzendiert die Welt, auch ihre Vorgaben von Raum- und Zeitmaßen. Sie überschreitet und löscht schließlich auch die apokalyptischen, messianischen und weisheitlichen Vorstellungs- und Handlungswelten und noch ihre eigenen.

Verstehensansätze zur Offenbarung des Johannes

Im überkomplexen und oft diffusen Erlebnis- und Gedankenfeld „Apokalyptik" hat mir der aufgeklärte Aufklärer Immanuel Kant weitergeholfen. 1794, als 70jähriger, unterscheidet er in seiner Schrift „Das Ende aller Dinge" ein „natürliches" Ende von einem „widernatürlichen (verkehrten)" und von einem „mystischen (übernatürlichen) Ende". Mit dem natürlichen Ende hatte er sich schon vierzig Jahre zuvor – 1754, ein Jahr vor dem großen Erdbeben in Lissabon – in einem Traktat zur „Frage, ob die Erde veralte, physikalisch erwogen" befasst und dort neben Erosionsprozessen auch biblisch apokalyptische Erwartungen und natürliche zerstörerische Kräfte wie Kometen und Vulkane nicht gänzlich außer Acht gelassen.

Ein widernatürliches „(verkehrtes) Ende aller Dinge in moralischer Rücksicht" hält Kant dann für möglich, wenn der „Antichrist" sein Regiment anträte und siegte. So könnte gegen alle positiven Erwartungen der Aufklärung das Ende „von uns selbst, dadurch dass wir den Endzweck missverstehen, herbeigeführt" werden.7 Das mystische Ende aller Dinge aber ist für Kant ein Unding. Für ihn enden östliche und westliche Mystik in Vorstellungen vom „Nichts" als „höchstem Gut", und dort, wo der „Abgrund der Gottheit" alles verschlingt, in der „Vernichtung" der „Persönlichkeit"8. Kant nimmt also positiv und kritisch Motive apokalyptischer Tradition auf, verfolgt sie aber nicht in ihrer Eigenbewegung, sondern versteht sie im Horizont der philosophischen und politischen Aufklärung. Aber seine Typenbestimmung und die darin enthaltene, wiewohl abgewehrte Entdeckung, dass Welt auch „innen" untergehen, zu einem Ende kommen kann, halte ich für großartig.

„Apokalypsis", die Offenbarung des Johannes (= Off.), das letzte Buch des Neuen Testaments, wohl aus der Spätzeit des Kaisers Domitian (81-96 n. Chr.), geschrieben in der Verbannung auf der ägäischen Insel Patmos – eine Mischung literarischer Gattungen: das Ganze so etwas wie ein Rundbrief, darin sieben einzelne Briefe an kleinasiatische christenjüdische Gemeinden, prophetische Appelle und Kritik, Trost und Durchhalteparolen, Visionen und Auditionen von weltgeschichtlichem Ausmaß, bis zum Weltende und über es hinaus: ein neues Jerusalem, eine neue Schöpfung.

„Apokalypsis" heißt in der griechischen Sprache nicht katastrophaler Weltuntergang, sondern „Enthüllung", Aufdeckung und Offenlegung der Mächte, die miteinander im Streit liegen – mit der zentralen Erwartung, dass es mit der widergöttlichen Weltmacht, dem imperialen Rom (symbolisiert in Drachen, Tieren und der Hure Babylon) ein Ende haben wird. Das Ziel ist die end-gültige Machtergreifung und Herrschaft Gottes.

Die Wirkungsgeschichte dieses Buches ist gewaltig. Es lässt sich historisch zeitgeschichtlich, darüber hinaus und spekulativer als welt- und kirchengeschichtlicher Großkalender und dann und darin auch endgeschichtlich lesen: „Die Zeit ist nahe." (Off. 1,3). Heißt: Wir leben mitten in den Katastrophen – aber / und im Grunde (jedenfalls im „Himmel") ist alles entschieden: Es gibt nicht nur irdische Fluchtorte (wie die Wüste; Off.12), sondern visionär gegenwärtige und visionär reale „Heterotope" (Michel Foucault), d.h., andere Orte: den Gottesthron im Himmel (Off. 4; bei ihm auch der Flucht-, Bet- und Warteort der Märtyrer und der Ort himmlischer Liturgie) und das Jerusalem eines neuen Himmels und einer neuen Erde (Off.21).

Vieles aus diesem Buch ist immer wieder illustriert: auf den Fresken (nicht nur im Eingangsbereich orthodoxer) Kirchen, auch in mittelalterlicher Buchkunst, auf den Teppichen von Angers, bei Dürer – bis hin zu Max Beckmann und anderen Künstlern der Moderne und Postmoderne. Vieles aus der Offenbarung des Johannes gehört in unsere Metaphernsprache und zu unseren bekannten Bildwelten, etwa. das Buch mit sieben Siegeln (das erste mit den vier apokalyptischen Reitern) / die sieben Posaunen, die Zeichen im Himmel: der Kampf Michaels mit dem Drachen, das Tier aus dem Abgrund, die sieben Schalen des Zorns, das tausendjährige Friedensreich auf Erden, die Endschlacht von Harmagedon (Off. 16,16), Gog und Magog, das jüngste Gericht ...

Frage: Welche Kräfte sind hier wirksam? Wie hilfreich, wie schädlich sind derartige religiöse Vorstellungswelten? Wer ist der Adressat dieser Schrift – historisch und gegenwärtig? Ist sie überhaupt an uns gerichtet? Auf welcher Seite steht das großkirchliche Christentum der ersten Welt?

Mein neutestamentlicher Kollege Prof. Friedrich Avemarie und ich haben im Wintersemester 2011/2012 ein „Dialogseminar: Offenbarung des Johannes, exegetisch und (biblio-)dramatisch" angeboten. Wir haben „diachron", d.h. historisch-kritisch rekonstruiert und analysiert. Und wir haben „synchron" Subjekte, Tätigkeitsworte (Verben), Orts- und Zeitangaben in Imaginationen auf der inneren Bühne und in szenischen und (para)liturgischen Proben auf äußeren Bühnen leibhaftig erfahrbar werden lassen. Die Suchfrage beider Zugänge hieß: Wie lässt sich die Dynamik des Textes mit- und nachvollziehen? Welche Resonanz findet der Text heute?

Verschiedentlich war bis in leibhaftige Erfahrung hinein spürbar: Die Apokalypse des Johannes verspricht Rettung, Unterbrechung und Abbruch aller Qualen, Christus- und Gottesvisionen und sagt an, „dass keine Zeit mehr sein" wird (Off. 10, 6), aber sie kann auch größte Schrecken erzeugen und Schwindel erregend sein, etwa dann, wenn man sich szenisch leibhaftig in die Welt begibt, die das sechste Siegel eröffnet (Off. 6, 12-17). Was folgt, ist eine kleine Collage aus Textteilen der Offenbarung und aus Protokollsätzen des szenischen Erlebens:

- „ein großes Erdbeben" wird spürbar, Erdspalten tun sich auf, der Boden rutscht mir unter den Füßen weg. „Und alle Berge und Inseln wurden von ihren Stellen gerückt ..."

- „die Sterne des Himmels (fallen) auf die Erde" und ich muss den Kopf einziehen

- „wie ein Feigenbaum seine Früchte abwirft, wenn er von einem starken Wind geschüttelt wird" – und ich werde der Wind, ich werde der Baum, ich bin die Frucht, die abgeschüttelt wird

- „und der Himmel entschwand wie eine Buchrolle, die sich zusammenrollt" – ich rolle mich in mich selbst hinein, verschwinde in die Leere

- und dann verberge ich mich mit den „Königen der Erde" und mit den „Würdenträgern" und den „Kriegsobersten" und den „Reichen und Mächtigen und allen Sklaven und Freien" „in die Klüfte und in die Felsen der Berge" und bitte sie, dass sie mich „vor dem Angesicht dessen, der auf dem Throne sitzt, und vor dem Zorn des Lammes" schützen sollen. „Denn" – so endet der Textabschnitt – „gekommen ist der große Tag seines Zorns, und wer kann bestehen?"

- Und das ist dann die wirklich christlich apokalyptisch bibliodramatische (und reale, alltagspraktische) Übung: „zu bestehen", stehen zu bleiben, nicht unterzugehen inmitten drohender Gefahren und destruktiver Mächte von allen Seiten, angesichts der Furie des Verschwindens.

Aber Schwindel erregend kann es auch sein, wenn man Kontakt mit der himmlischen Gegenwelt aufnimmt und sich in einer aktiven Imagination in die Vision des Thrones Gottes in Off. 4, 1-8 hinein begibt:

1 Danach sah ich – da: eine geöffnete Tür im Himmel; und die erste Stimme, die ich gehört hatte wie eine Posaune redete mit mir, sprach: „Steig hier herauf! Und ich will dir zeigen, was geschehen muss danach." 2 Sogleich befand ich mich im Geist – da: Ein Thron stand im Himmel, und auf dem Thron einer, der da saß; 3 und der da saß: an Aussehen gleich einem Jaspis und Karneol, und ein Strahlenkranz rund um den Thron: an Aussehen gleich dem Smaragd. 4 Und rund um den Thron: vierundzwanzig Throne, und auf den Thronen: vierundzwanzig Älteste, die da saßen, umkleidet mit weißen Gewändern, und auf ihren Köpfen: goldene Kränze. 5 Und vom Thron gehen Blitze aus, Getöse und Donner; und sieben feurig brennende Fackeln vor dem Thron, das sind die sieben Geister Gottes; 6 und vor dem Thron: ein Meer, durchsichtig wie Glas, gleich Bergkristall; und (in der Mitte des Thrones und rings) um den Thron: vier Wesen voller Augen, vorn und hinten; und das erste Wesen: gleich einem Löwen; das zweite Wesen: gleich einem Stier; das dritte Wesen hatte das Antlitz wie das eines Menschen; und das vierte Wesen: gleich einem fliegenden Adler; 8 und die vier Wesen: eins wie das andere von ihnen hatte je sechs Flügel, rund herum und innen voller Augen, und sie haben Tag und Nacht keine Ruhe, sprechen: „Heilig, heilig, heilig der Ewige, Gott, mächtig über alles, der Er war und der Er ist und der Er kommt."9

Wiederum Protokollsätze aus dem Gruppenprozess:

- Teilnehmende spüren eine Sog hinein in diese andere Welt

- fühlen sich von Augen beobachtet

- sehen vor sich ein großes mechanisches Ballett, in sich rotierende Bewegungen um eine Mittelachse herum, wie bei einer Weihnachtspyramide

- zwar ein bunter Regenbogen, aber sonst alles steril, weiß, kalt und starr

- die Kälte der Edelsteine, der Thron besetzt mit etwas Unnahbarem, die Stimme, die mich gerufen hat, taucht weg, „alles spielt sich ohne mich ab"

- aber auch: das gläserne Meer als die große Klarheit, alles wird offenbar, wird bewusst

- und eine Teilnehmerin setzt sich auf eines der vier Wesen, die „in der Mitte des Throns und rings um den Thron" sind. Sie erlebt das Wesen als „würdevoll" und erlebt die Bewegung als „monoton, gleichbleibend, angenehm".

Im Anschluss an diesen Seminarbericht etwas distanzierter ein paar weitere Basisinformationen und Interpretationslinien: Zunächst zum Verfasser und zu den Adressaten und ihrer Lebenssituation: Johannes bezeichnet sich selbst als „euer Bruder und Mitgenosse in der Bedrängnis und der Königsherrschaft und dem Ausharren bei Jesus". (Off. 1,9) Danach ist für beide (Verfasser und Adressat) die Erwartungskraft der Gottesherrschaft, deren anfängliche Gegenwart und deren nahe Zukunft Jesus gepredigt und repräsentiert hatte, genauso im Fokus wie die Situation der Bedrängnis/Notlage/Verfolgung/Trübsal und die Ermutigung, auszuhalten. Durchstehvermögen, Geduld und Standfestigkeit sind von Nöten – und dies wohl nicht nur wegen aktueller Christenverfolgungen unter Domitian. Die frühen christenjüdischen Gemeinden sind in einer apokalyptischen Grundstimmung. Auch Paulus lebt in einer zusammengedrängten Übergangs- und Restzeit. Für ihn und die frühen Gemeinden stehen das Ende dieses Äons und die Wiederkehr Christi unmittelbar bevor. Hinzu kommen die traumatische Erfahrung der zweiten Zerstörung des Jerusalemer Tempels (70 n. Chr.) und alle anhaltenden Verstörungen durch die Römische Besatzung. Auch der Vesuvausbruch 79 n. Chr. mag seine Schrecken verbreitet haben. Die sog. „kleinen Apokalypsen" in den ersten drei biblischen Evangelien (bei Matthäus, Markus und Lukas) machen deutlich, wie urgemeindlich und frühkirchlich virulent und stark die Erwartung eines politisch und kosmisch totalen Zusammenbruchs und eines völligen Neuanfangs war:

Aber in jenen Tagen nach jener Drangsal, wird die Sonne sich verfinstern, und der Mond wird seinen Schein nicht geben, und die Sterne werden vom Himmel fallen, und die Kräfte in den Himmeln werden erschüttert werden. Und dann wird man den Sohn des Menschen auf den Wolken kommen sehen mit großer Macht und Herrlichkeit. (Markus 13, 24-46)

Nach den Bemerkungen zum Verfasser und den Adressaten die Frage nach den Mächten, die hier miteinander im Streit liegen: Am Anfang seines Briefes sagt Johannes Gnade und Frieden zu „von dem, der ist und der war und der kommt ... und von Jesus Christus, dem treuen Zeugen, dem Erstgeborenen der Toten und dem Herrscher über die Könige der Erde. ...der uns liebt ... „ (Off. 1,4-6). Dieser Jesus Christus offenbart sich dem Johannes in der ersten Vision als „der Erste und der Letzte und der Lebendige, und ich war tot, und siehe, ich bin lebendig in alle Ewigkeit und habe die Schlüssel des Todes und des Totenreiches" (Off. 1,17f). Aber fragt man nach allen – den göttlichen und den widergöttlichen – Akteuren, die in der Offenbarung des Johannes wirksam sind, stößt man immer wieder auch auf machtbewusste und starke, zerstörerische Gegenmächte bis hin zu dem Drachen und den beiden Tieren (Off. 12 / 13). Dem Tier aus dem Meer etwa wird „gegeben", für 42 Monate „Krieg zu führen mit den Heiligen und sie zu besiegen; und es wurde ihm Macht gegeben über alle Geschlechter und Völker und Sprachen und Nationen". (Off. 13,4-7) Wie diese passivische, in der Johannesoffenbarung oft auftauchende Wendung „es wurde gegeben" zu verstehen ist, bleibt umstritten und vielleicht nicht einmal hinreichend aufzuklären. Grammatisch gibt es so etwas wie das passivum divinum, heißt: Man vermeidet, von Gott direkt zu reden und spricht also im passivischen „es wird ... / es wurde ... ". Wer es unerträglich findet, dass Gott gegengöttlichen Mächte geradezu eine (wenn auch) vorübergehende Lizenz erteilt oder gar in seinem Namen handeln lässt, möchte lieber nur von einem Gewähren-Lassen Gottes sprechen. Aber damit sind bleibende bohrende Fragen in Bezug auf Gottes Macht und Wirklichkeit nicht wirklich beantwortet. Was unübersehbar bleibt: Gottes Zorn ist eine ungeheuer wirkmächtige Handlungsgröße, wie und wo immer er sich Bahn bricht.

Das Stichwort „Zorn" führt mich dazu, kurz noch eine weitere Annäherungsmöglichkeit an den gesamten Text der Offenbarung des Johannes vorzustellen: Man könnte ja nach den grundlegenden Affekten, nach den Emotionen im Handlungs- und Erfahrungsvollzug fragen – so wie von ihnen im Text selbst die Rede ist. Nach vielen psychologischen Schulen gibt es zumindest vier Grundaffekte: Angst / Wut (Zorn) / Trauer / Freude. Für mich ist die Arbeit am Text mit dieser Fragestellung absolut überraschend, jedenfalls so nicht erwartet gewesen; und ich halte folgende kurz zusammengestellte Beobachtungen für hoch signifikant:

Zur Angst: Furcht / Angst ist bei allem Schrecken, von dem in der Offenbarung die Rede ist, überraschenderweise kaum thematisiert. In der Eingangsvision heißt es einmal und für alle weiteren Kapitel: „Fürchte dich nicht" (Off. 1,17; vgl. 2,10). Auch von der Furcht der Gottesfeinde ist nur ein einziges Mal die Rede (Off. 18,10) (ansonsten viermal von der „Furcht Gottes": Off. 11,18; 14,7; 15,4; 19,5).

Zur Trauer: Aber auch Trauer scheint kein starker Erfahrungswert in dieser frühchristlichen Gemeinde zu sein. Sie wird den Feinden zugewünscht (Off. 18,7f); und die Kaufleute, die all ihre Waren verlieren, trauern tatsächlich (Off. 18,15 und 19). Immerhin: Im neuen Jerusalem wird Gott abwischen alle Tränen (Off. 21,4).

Zur Freude: Aber auch Freude will kaum aufkommen, bleibt unthematisiert, taucht einmal nur im himmlischen Frohlocken über den Fall Babylons (Off. 19,7), das andere Mal in der Schadenfreude der Gottlosen über den Tod zweier Zeugen auf (Off. 11,10).

Fast könnte man den Eindruck gewinnen, die apokalyptischen Welten seien so erstarrt, dass Emotionen gar nicht mehr lebensfähig sind. Psychisches Faktum ist, dass in Träumen bisweilen Bilder äußerster Grausamkeit relativ affektlos wahrgenommen werden. Das mag mit abgespaltenen, nicht zugelassenen, unerträglichen Gefühlslagen zu tun haben. In der Offenbarung des Johannes aber ist dies nicht der Fall, denn unübersehbar ist Zorn / Wut die dominierende Gefühlsmacht. Nicht weniger als sechsmal ist – mit katastrophalen Auswirkungen – vom Zorn des Lammes und vom Zorn Gottes die Rede (Off. 6,16f; 11,18; 14,10; 16,19; 19,15).

Eine Bilanz mit der Ausgangsfrage: Wenn Menschen mit ihren äußersten Ängsten und Hoffnungen befasst sind – wie weit und wohin trägt dann christliche Apokalyptik, hier im Fokus der Offenbarung des Johannes?

Theologisch ist dieses Werk oft dadurch verteidigt worden, dass man argumentiert hat: Die Offenbarung darf man nicht als welt- und endgeschichtlichen Kalender lesen, sondern als Buch einer Märtyrerkirche und als Trostbuch einer verfolgten, in die Enge getriebenen Gemeinde und darin sogar als Herrschaftskritik gegen alle religiösen, politischen und ökonomischen imperialen Mächte. Die befreiende Botschaft, mitten in der Katastrophe, in der diese Gemeinde lebt, ist: Es wird nicht so weitergehen. All dies wird ein Ende haben, wenn auch selbst für die Gläubigen, die „von Grundlegung der Welt an" zum Heil vorherbestimmt sind (Off. 17,8), ein Ende mit Schrecken. Denn auch ihnen droht zunächst einmal, elend zu sterben. Die wesentliche Botschaft ist und bleibt die apokalyptische Hoffnung auf das „Reich" und der Appell, in der äußersten Bedrängnis durchzuhalten.

Kritiker fragen: Wie teuer sind dieser Trost und diese Hoffnung erkauft? An welche Grenzen kommen Menschen, wenn für sie Trost hier und heute weitgehend nur noch in schizoiden, psychosenahen Visionen erreichbar ist und wenn sie ihre abgespaltenen, für sie vielleicht nicht einmal bewussten Rachephantasien an Gott delegieren? „Wo lassen Sie töten?" Und für Kritiker rücken damit auch die in der Apokalypse ins Spiel gebrachten Gottesinstanzen und Bevollmächtigten Gottes in heftige Kritik. Wo bleiben Liebe und Barmherzigkeit Gottes als umfassende Wirkmächte? Das weite neutestamentliche Wortfeld zu „Barmherzigkeit" findet nicht ein einziges Mal Gebrauch im letzten Buch der Bibel.

Wirkungsgeschichtlich kritisch bleibt schließlich, dass die Offenbarung des Johannes unzählige kalendarische und energetische Missverständnisse und zusätzliche katastrophale Zusammenbrüche mit verursacht hat – bis hin zu den vorletzten US amerikanischen Präsidenten, die meinten, eine Achse des Bösen ausmachen zu können und sie selbst müssten in den Endschlachten aktiv auf der richtigen Seite mitkämpfen und siegen.

Das soweit Gesagte ist eine theologisch, aber auch psychologisch und politisch ziemlich kritische Bilanz. Therapeutisch-analytisch muss dem freilich noch eine weitere Perspektive hinzugefügt werden: Weltuntergangsvorstellungen können verstanden werden als erste Verarbeitungsversuche von lebensbedrohenden Krisen, in denen es – jedenfalls innerpsychisch subjektiv – um Alles oder Nichts, um Sein oder Nicht-Sein geht.

Psychiatrisch lässt sich beobachten, dass im Wahngeschehen oft nach einer unerträglichen, noch bildlosen Angst und ausdruckslosen Katastrophenerwartung Vorstellungen vom Zusammenbruch aller Welten und Umwelten auftauchen. Schon Freud hat derartige Wahnbildungen als „Heilungsversuch", nicht als „Krankheitsproduktion" verstehen wollen. Psychoanalytisch betrachtet sind Weltuntergangsvorstellungen immer schon Reaktionen auf eine tödliche Bedrohung des psychischen Gleichgewichts, nicht die Bedrohung selbst. Wenn konfligierende Wirklichkeitserfahrungen / Beziehungswelten in unversöhnbarer Gegensätzlichkeit zueinander stehen, kann eine Lösung dadurch versucht werden, dass ein Teil oder das ganze System untergehen muss. Innerpsychische Lebens- und Sinnkrisen können solche Ausmaße annehmen, dass es nicht mehr möglich ist, sie bewusst und nach außen konfliktorientiert zu lösen. Weniger mit dem Mut als mit der Wut der Verzweiflung muss dann wahnhaft nicht nur der Gegner, sondern mit ihm die ganze Welt untergehen. Die Grundatmosphäre dabei ist tatsächlich Verzweiflung; und der Energie bringende Affekt ist Zorn / Wut. Eine psychisch starke und stärkende, wiewohl wahnhaft abgespaltene imaginierte Welt freilich bleibt bestehen. Bei Johannes scheinen mir die Christusvision gleich zu Beginn, aber auch alle visionären Entrückungen zum Thron Gottes und der Blick auf das Himmlische Jerusalem am Schluss diesem Bereich zuzugehören. Religionspsychologisch und auch spirituell gesehen kann Johannes wohl nur durch diese Visionen einer Gegenwelt alle Schreckensvisionen ertragen. Die visionär erschaute und als zweifellos gegebene Gegenwart erfahrene göttliche Wirklichkeit ist genauso real, ja realer und wirksamer als das Geschehen der Schreckens- und Kampfbilder und wird am Ende den Sieg davontragen.

Rückt man die Visionen und Auditionen, ja den ganzen Schreib- und Symboliserungsprozess des Sehers Johannes in einen psychosenahen Bereich, ließen sich ihm religionspsychologisch und psychohistorisch neue, in gewissem Sinne sogar positive, weil lösungsorientierte Aspekte abgewinnen. Aber das kann nur der Anfang einer kritischen bewussten Bearbeitung der zugrunde liegenden Probleme und „Heilungsversuche" sein. Denn die weiter oben gestellte Frage nach dem Preis für diese Art apokalytischen Trostes, apokalyptischer Angst und religiöser Hoffnung bleibt ja in vollem Umfang bestehen.

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Zur Diskussion gestellt habe ich meine Beobachtung, dass bei den Deutungs- und Bewältigungsversuche, die von Religions- und KulturwissenschaftlerInnen aus dem Bereich japanischer Religionen und von christlichen Theologen vorgetragen wurden, kaum Stichworte oder Verstehensmuster aus dem Wort- und Bildbereich der Apokalyptik, auch nicht aus der Mystik auftauchten. Die Schreckensbilder der „Offenbarung" mögen noch als Vor-Spiegelungen des realen katastrophalen Geschehens dienen – apokalyptische Kalender und theologische Deutungen wurden aber nirgendwo aufgenommen. Deutlich apokalyptisch war der Verweis auf Hebr.13, 14: „Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern wir suchen die zukünftige." Messianisches klang für mich da an, wo die offene positive Zukunft Gottes und seine absolute Freiheit im Zusammenspiel mit der menschlichen (relativen) Freiheit – im Kontrast zum unausweichlichen „Schicksal" – in den Blick genommen wurden. Auch der Gegensatz von restaurativer „Wiederherstellung" zur „Erneuerung" stand für mich eher in einem messianischen als in einem apokalyptischen Kontext. Die meisten Deutungen aber, gerade auch die Neureligionen, schienen mir im Horizont von Weisheitstradtionen angesiedelt, etwa wenn auf Hiobs „Der Herr hat es gegeben, der Herr hat es genommen ..." (Hiob 1,21) verwiesen wurden. Entsprechend verstehe ich die Äußerung, Leid sei ein unumgänglicher Teil menschlichen Lebens, und die Formulierung des Zen Meister Ryokan: „Wenn die Zeit kommt, der Katastrophe zu begegnen, solltet ihr die Katastrophe hinnehmen." Auch die Aussage, alle Dinge seinen eben vergänglich und in sich instabil, ist weisheitlich. Sie beschreibt die Welt realistisch und soll wohl auch trösten. Eine Grunddefinition von Weisheit, wie sie Hans Heinrich Schmid formuliert hat, mag die Attraktivität und Angemessenheit dieses Religionstyps (auch) angesichts von Lebenskrisen nachvollziehbar machen: Nach Schmid ist Weisheit „die sich (mündlich und schriftlich) äußernde Bemühung des Menschen, bestimmte Erfahrungen und Erlebnisse zu formulieren, zu sammeln und zu ordnen, um so ein Stück weit die Regeln und Ordnungen der Welt zu erkennen, um sich nach Möglichkeit ihnen entsprechend zu verhalten und so die Ordnung der Welt zu erhalten, bzw. immer wieder neu zu konstituieren."10

Ausführlicher diskutiert wurden Vorstellungen von der "Vorsehung" Gottes (nicht als Dogma, sondern als Glaubensgedanken, der an der Einzigartigkeit jeden Lebens – besonders in dramatischen Krisen – festhält) und auch die Möglichkeit bzw. die Schwierigkeit, den eigenen Tod oder den Tod anderer im Rahmen klassischer Opfervorstellungen zu verstehen.

 

Literaturhinweis:

Gerhard Marcel Martin: Weltuntergang. Sinn und Gefahr apokalyptischer Visionen. Stuttgart 1984 (japanische Übersetzung Seidosha Publishing: Tokyo 1997)

ders: Apokalypse innen und außen. (wird in Kürze erscheinen im Verlag Blaues Schloss, Marburg)

Anmerkungen
1 In Bezug auf Paulus vgl. G. Theißen: Soteriologische Symbolik in den paulinischen Schriften, in: Kerygma und Dogma 20 (1974 ) 282-304.

2 G. M. Martin: Apokalyptik und Mystik, in: H.-.M. Barth / J. Kadowaki / E. Minoura / M. Pye (Hg.): Buddhismus und Christentum vor der Herausforderung der Säkularisierung, Schenefeld 2004, 131-142, 135.

3 G. Agamben: Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief, Frankfurt 2006.

4 Vgl. T. Onuki: Jesus. Geschichte und Gegenwart, Neukirchen-Vluyn 2006.

5 H. Seuse / J. Tauler: Mystische Schriften, München 1988 (Diederichs Gelbe Reihe), 73.

6 Meister Eckehart: Deutsche Predigten und Traktate. Herausgegeben und übersetzt von J. Quint, München ³1969, Predigt 32, 303-309.

7 I. Kant: Das Ende aller Dinge, in: ders: Werke in zehn Bänden, hrsg. von W. Weischedel, Band IX, Darmstadt 1970³, 173-190, Zitate 190, 182.

8 Kant, a.a.O., 185.

9 Übersetzung (bis auf die Einklammerung) aus K. Wengst: „Wie lange noch?" Schreien nach Recht und Gerechtigkeit – eine Deutung der Apokalypse des Johannes, Stuttgart 2010, 16.

10 H. H. Schmid: Altorientalische Welt in der alttestamentlichen Theologie. Zürich 1974, 137.

Kooperationspartner: 

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