1923 Das Erdbeben

AEPM Allgemeiner Evangelisch-Protestantischer Missionsverein
ab 1929 Ostasienmission

Quelle: Ostasien-Jahrbuch Nr. 3 (Berlin 1924)
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Die Erdbeben-Katastrophe in Japan.
Von Superintendent D.  E. Schiller.

4. September 1923.

Mit meiner Familie befand ich mich in Karuizawa in einem zweistöckigen, leichten Wohnhaus, das nur im Sommer bewohnbar ist. Es ist das der Platz in Japan, wo vor mehr als 50 Jahren die ersten Missionare sich als Zufluchtsstätte für die Zeit der großen Sommerhitze in Wald und Heide zerstreut einfache Bretter-Häuser gebaut haben. Andere sind dann nachgefolgt, und es entstand allmählich eine blühende Sommerkolonie, wo die Missionen ihre Konferenzen halten, wo die im Lande zerstreuten Kollegen ihre Erfahrungen austauschen, wo die einsam lebenden Familien wieder ihren Landsleuten begegnen, ihre Landessprache hören, in ihrer Sprache gemeinsame Gottesdienste halten, für ihre Kinder die Anregungen einer Sommerschule haben, und da auch Schneider und Händler sich einstellen, sich für ein Jahr ausstatten können. Im letzten Jahrzehnt hat sich der Charakter des Platzes verändert, da immer mehr auch andere als Missionare das gesunde Klima schätzen lernten, namentlich auch Japaner sich Sommerhäuser bauten, die dann luxuriöser wurden, und schließlich auch eine Sommerhochschule errichteten, in welcher in diesem Jahre Prof. Driesch aus Leipzig drei Vorträge hielt. Seit Beginn des Weltkrieges kamen auch immer mehr Deutsche hierhin, so daß ich z. B. in diesem Sommer deutsche Gottesdienste in meinem Hause hielt, ebenso Konfirmandenunterricht, ein Kind taufte und ein junges Mädchen konfirmierte. Es werden wohl in diesem Sommer 1500 Ausländer und ebenso viele Japaner hier Rast gesucht haben an dem Platze, der 1000 Meter hoch liegt auf einem Plateau, umgeben von Bergen, die überragt werden von dem 3000 Meter hohen Vulkan Asama. Zum ersten Male ist auch der Prinzregent hier gewesen.

Es war einige Minuten vor Mittag am 1. September, als unsere Sommerruhe jäh gestört wurde durch ein schlimmes Erdbeben, wie ich noch keines erlebt habe. Ich befand mich im 2. Stockwerke am Schreiben und wartete zögernd, bis die Erschütterung des Hauses vorübergehen würde. Da dies nicht geschah, sondern das Schütteln schlimmer wurde, eilte ich ins Freie, wo schon meine Familie und die des englischen Nachbarn samt den Dienstboten unter den Waldbäumen versammelt waren. Der Boden wankte unter uns, die Häuser zitterten lange, so daß wir uns wunderten, daß sie stehen blieben. Dann kam ein zweites, fast ebenso starkes Erdbeben, das wir draußen abwarteten. Erst darauf gingen wir hinein zum Mittagsmahl, hatten aber während dessen noch dreimal ins Freie zu flüchten. Auch am Nachmittage und in der folgenden Nacht kamen noch etwa 30 Nachbeben, nur leichterer Art, ja sie dauern immer noch weiter, wenn auch seltener. Ein ziemlicher Stoß mit längeren Erschütterungen kam mitten in meine Taufrede hinein. Doch ging auch er glücklich vorüber. Aber das Gefühl der Unsicherheit namentlich in der ersten Nacht mit 10 Beben, wobei wir wegen Störung des Elektrizitätswerkes ohne Licht waren, war sehr unbehaglich.

Am Spätnachmittage des 1. September, nach Beendigung der Tauffeier, gingen wir noch hinunter zur Bahnhofstadt und fanden, daß viele Japaner sich Zelts im [54] Freien errichtet hatten oder gar ohne Schutz auf Matten kampierten, um den Gefahren der Häuser zu entgehen. Es waren allerdings auch einige schwache Häuser eingestürzt und andere verlassen, da sie mit Einsturz drohten. Der Anblick war traurig, und die ernste Stille, die der Japaner bei solchen Anlässen zeigt, wirkt auf den Europäer deprimierend. An sich war bei der Rückkehr in der Dämmerung der Anblick der Papierlaternen in den Zelten recht malerisch, und im Dorfe erinnerte die Kerzen- und Lampionbeleuchtung an frühere Zeiten, die ich noch gekannt habe.

Unser erster Gedanke bei den Erdbeben war gewesen, daß wir unserem benachbarten Vulkan Asama die Schuld gaben, der sich in Wolken gehüllt hatte. Ich hatte ihn mit Frau und Tochter einige Wochen vorher in einer klaren Vollmondnacht erstiegen und bei Sonnenaufgang frostzitternd in seinen Krater geschaut. Er war diesen Sommer ruhiger als sonst gewesen, was uns nicht als ein gutes Zeichen erschien, wir hegten darum die Besorgnis eines Ausbruchs und weiterer Gefahren. Aber wir hatten ihm diesmal Unrecht getan; denn allmählich kamen Gerüchte, daß nach der anderen Seite hin, unten in der Tokyo-Ebene und weiterhin viel Schlimmeres sich ereignet hatte, als wir ahnen konnten, und daß bei uns nur die letzten Ausläufer furchtbarer und schrecklicher Ereignisse stattgefunden hatten, von deren Tragweite wir noch heute keine sichere Kunde haben. Die Zeitungen aus Tokyo und Yokohama fehlen, ebenso die Post überhaupt, Eisenbahn, Telegraph und Telephon dorthin ist zerstört. Denn Tokyo, Yokohama und die ganze dicht bevölkerte Umgegend soll durch Erdbeben und die dadurch verursachten Brände, die aus den zusammengefallenen Holz- und Papierhäusern sich leicht verbreiten. zumal wenn noch Wind in die Flamme bläst und durch Zerstörung der Wasserleitung das Löschen unmöglich ist, zerstört und außerdem die Küste durch Flutwellen verheert sein. Draußen vor der Tokyobucht liegt der Vulkan Oshima, und dort und in der Nähe unter dem Meeresgründe soll eine Hauptstätte vulkanischer Tätigkeit sein. Wenn wir auch noch keine sicheren Nachrichten haben, so wissen wir doch, daß etwas Furchtbares und in einem Umfange seit Jahrtausenden noch nie Dagewesenes sich zugetragen hat. Die Riesenstadt Tokyo mit 3 bis 4 Millionen Bewohnern, die Welthafenstadt Yokohama, der große Kriegshafen Yokosuka und alles zwischen und bei diese Städte Liegende, die Badestrände von Kamakura, Atami und andere, die Badeorte im Hakonegebirge, rege Industriebezirke und Geschäftsviertel, Schulen und Universitäten, Tempel und Arsenale — alles liegt in Trümmern, und die Menschen sind entweder erschlagen oder verbrannt oder verwundet oder von Panik ergriffen und dem Hunger und Durste aus Mangel an Trinkwasser wegen Zerstörung der Leitungen preisgegeben. Gottlob, daß das alles nicht menschlicher Schuld zuzuschreiben ist. wie die Schrecken und Verheerungen des Weltkrieges und was darauf gefolgt ist. Hier kann keiner dem ändern die Schuld aufbürden, hier stehen wir alle schwach und hilflos den Naturkräften gegenüber, welche ein höherer Wille geschaffen und entfesselt hat. Warum? Wir beugen uns in Demut seinem Willen und sprechen wie Hiob: „Ich will schweigen und meine Hand auf meinen Mund legen!"

Und dennoch ist die Schuldfrage gestellt worden im Herzen und Munde verzweifelter Menschen, wenigstens für die Schuld an den furchtbaren Bränden, deren Anlaß doch klar sein sollte. Man schiebt das den 15.000 Koreanern zu, die als Arbeiter in Tokyo wohnen, und es soll zeitweise eine furchtbare Panik in dem brennenden Tokyo geherrscht haben, als das Gerücht sich verbreitete, daß die Koreaner anrückten. Da wirkt das Gewissen mit, das sich den Koreanern gegen- [55] über schuldig fühlt wegen so manchem, das ihnen angetan worden ist. Aber nur wirkt es leider in umgekehrter Richtung, wie so oft beim Menschen, und Japaner erzählen sich flüsternd, was in diesen Tagen mit vielen Koreanern getan worden ist. wenn man ihrer habhaft wurde. Es soll aber hier nicht mitgeteilt werden.

Die Frage bedrückt uns, was ist bei den Erdbeben und Bränden aus der deutschen Kirchein Kojimachi und den Missionsgebäuden in Koishikawa geworden, die wir im Verlaufe von mehr als 30 Jahren aufgebaut haben? Und noch mehr, was ist aus unsern Missionsangestellten geworden und ihren Familien, aus unsern Gemeindegliedern, Schülern und Freunden? Vorläufig ist darüber nichts zu erfahren, da wenig Nachrichten hinaus- und hineingelangen wegen des Fehlens der Post und wegen der strengen militärischen Absperrung, welche wohl die Flüchtlinge hinaus-, aber wenige hineinläßt.

Den 10. September 1983.

Leider sind alle Gerüchte aufs schlimmste bestätigt worden. Tokyo existiert nur noch zu zwei Fünftel und Yokohama überhaupt nicht mehr, ebensowenig wie der Kriegshafen Yokosuka und die Seebäder Kamakura und Atami. Das Zentrum der ostasiatischen Kultur ist zerstört, ebenso die Industrie, die Handelshäuser, die Verkehrsmittel in diesem Teile Japans, und an Menschenleben hat Tokyo 35.000 und Yokohama gar 120.000 verloren, geschweige die anderen Plätze und das große Heer der Verwundeten. Yokohama, das dem Zentrum des Erdbebens näher lag. scheint auf den ersten Streich zusammengebrochen und dann ausgebrannt zu sein mit den Menschen unter den Trümmern, während in Tokyo viele dem Erdbeben entgingen, dann aber den Bränden zum Opfer fielen. Eine ganze Feuerwehrabteilung von 100 Mann ist in einem Stadtviertel Tokyos aus den Bränden nicht zurückgekommen, und in Yokohama waren von 1.250 Polizisten nachher nur noch 250 zur Stelle. In Suruga in der Nähe des Fuji brach eine Spinnerei über 1.500 Mädchen zusammen und brannte dann ab. Und im Arbeiterviertel Tokyos sollen gar 10.000 Menschen sich vor den Flammen auf einen freien Platz geflüchtet, aber dann doch von den Flammen erstickt und aufgezehrt sein. Um sich eine Vorstellung von dem Geschehenen Zu machen, stelle man sich etwa vor, daß drei Fünftel von Berlin umgefallen und ausgebrannt sei, daß daneben Spandau und Potsdam ganz zertrümmert seien, daß ebenso das meiste zwischen diesen Städten und um dieselben herum, vor allem alle Fabriken und Verkehrsmittel, vernichtet seien. Dazu kommt nun in Japan an diesen Orten der plötzliche Mangel an Lebensmitteln, das Fehlen von Trinkwasser bei der großen Hitze, des Nachts die völlige Dunkelheit, und die Angst der Bewohner, die noch heute vielfach im Freien kampieren, da die Erdbebenstöße noch weiter gehen, ebenso wie hier in Karuizawa, wo sie allerdings schwächer und seltener geworden sind. In Tokyo hat man bisher über 1.000 seit dem 1. September gezählt.

Nun kommen bei Tag und Nacht die Eisenbahnzüge voll beladen mit Flüchtlingen hier durch auf dieser einzigen Strecke, die einigermaßen fahrbar ist. Die armen Menschen sind erschöpft von Schlafmangel, Angst, Hunger und Durst, teilweise auch verwundet und krank. Sie werden beim Durchreisen gespeist, und man gibt ihnen, was man hat. Aber es sind unendliche Scharen von Männern, Frauen und Rindern, alle still und bescheiden und so überaus dankbar für jeden kleinen Liebesdienst, und sei es auch nur ein Trunk Wasser oder Tee oder ein Stückchen Eis, das man ihnen reicht.

Zum ersten Male habe ich erlebt, daß den Japanern das Lachen vergangen ist. auch das Lächeln, das immer auf ihrem Gesicht steht, hinter dem sie ihre ernsten [56] und traurigen Gefühle, auch das Erschrecken zu verbergen pflegen. Selbst den Händlern und Verkäufern hier im Sommeraufenthalte stand der Kummer im Gesichte geschrieben, wenn sie auch niemand damit belästigten. Es war ein großes, beklemmendes Schweigen tagelang. Sie haben ja alle in Tokyo oder Yokohama ihre Häuser und Warenbestände und vor allem ihre Angehörigen, um die sie bangen. Doch hört man bei den Japanern keine lauten Klagen. Still und würdig tragen sie ihr Leid und ihre Sorgen. Doch sah man in den ersten Tagen auf der Straße und in den offenen Häusern Gruppen von Menschen, die aufmerksam, bleich und ernst den Berichten eines Entronnenen zuhörten.

Die Selbstbeherrschung der Japaner, trotz gelegentlicher Panik der beiden ersten Tage, ihr Ordnungssinn, ihre Organisationsgabe, ihre Tatkraft, überhaupt ihre charaktervolle Haltung hat sich glänzend bewährt und die Bewunderung der Europäer hervorgerufen. Sofort wurde der Belagerungszustand erklärt und Truppen von fernher zur Aufrechterhaltung der Ordnung wie zu Notstandsarbeiten herbeigezogen. Während die Erdbeben fortdauerten, setzte der Prinzregent in feierlicher Sitzung das neue Ministerium in sein Amt ein, und dieses traf sofort die nötigen Maßregeln zur Unterbringung der Obdachlosen in Baracken und den Gebäuden der Reichen, zur Beschlagnahme, Herbeischaffung und Verteilung von Lebensmitteln, Trinkwasser und sonstigem Notwendigen, zur Herstellung der Verkehrsmittel, zur Preisregulierung, zur öffentlichen Sicherheit, so daß z. B. nachts niemand einreisen und niemand auf den Straßen sein darf, wie überhaupt die Einreise nur mit polizeilicher Genehmigung möglich ist. Die Liebestätigkeit regt sich im ganzen Lande in großartiger Weise. Auch die kleine deutsche Kolonie in Kobe hat sogleich 5.000 Yen zu der 50.000-Yen-Sammlung der dortigen Europäer aufgebracht, wobei noch außerdem die Bereitwilligkeit erklärt worden ist. die flüchtigen Landsleute in Lobe einstweilen aufzunehmen und zu versorgen. Leider sind die Verluste nicht nur an Sachwerten, sondern auch an Menschenleben auch unter den Ausländern groß, wie ja auch kein Stand und Rang, vom japanischen Kaiserhaus anfangend, verschont geblieben ist. Wir Deutsche haben, soweit es bisher bekannt ist, den Tod von sechs Landsleuten und die Schweizer Kolonie von einem jungen Manne zu beklagen. Aber die Befürchtung muß bestehen, daß die Liste damit noch nicht abgeschlossen ist Die deutschen Geschäftshäuser in Tokyo und Yokohama liegen in Trümmern. Das Schicksal der deutschen Kirche, die in einem Brandbezirke liegt, habe ich noch nicht erfahren können. Unsere Missionsgebäude in Koishikawa liegen in der weniger gefährdeten Zone. Mit einer Einreiseerlaubnis der Polizei versehen, hoffe ich den Militärgürtel zu durchdringen und dann in langem Marsche, ausgerüstet mit Lebensmitteln und Trinkwasser, unser Grundstück zu erreichen, und vor allem auch unsere Angestellten. Christen, Schüler und Freunde aufzusuchen. Traurige und schreckliche Bilder werde ich da zu sehen bekommen.

Hier in meinem Karuizawaheim besteht unter meinem Vorsitz die Auskunftsstelle für Deutsche zum Austausch der Berichte, zur Vermittlung von Briefen, zur Bekanntmachung wichtiger Nachrichten und zur Unterbringung etwaiger Landsleute. Die meisten der letzteren, ohne viel Kleider und Geld und ohne Verdienst, sind aber schon zu Schiff nach Kobe gebracht oder wohnen in Tokyo in der Deutschen ostasiatischen Gesellschaft oder in stehengebliebenen Häusern. Vorläufig wissen wir Sicheres nur über den Tod von folgenden Landsleuten: Herr Sandberg. Leiter der Deutsch-Asiatischen Bank in Yokohama, Frl. Schiff, Erzieherin, und einer ihrer Pfleglinge, ein Andresensches Kind, Herr Lopan und Herr von Massenbach, alle [57] aus Yokohama, sowie Wahrscheinlich. Konsulatssekretär Märkel, der unter den Trümmern des Yokohama-Konsulats begraben liegt. Außerdem der Schweizer T. Müller aus Yokohama und der Deutschamerikaner Kaiser aus Tokyo.

Kyoto, den 21. September 1923.

Nachdem ich die polizeilich« Erlaubnis zur Einreise in das durch Erdbeben und Feuer zerstörte Gebiet erhalten hatte, da ich als Missionsvertreter zu den dort Geschädigten gehörte, machte ich mich am Morgen des 12. September mit Lebensmitteln im Rucksack dorthin auf den Weg. Es war eine heiße Fahrt in einem engen Zuge, wo es keinen Unterschied der Klassen mehr gab und die Fenster der Wagen vielfach als Ein- und Ausgang benutzt wurden. Sobald uns die elektrische Zahnradbahn die l.000 Meter hinunterbefördert hatte, umfing uns die Gluthitze der Niederung, die über den üppigen Reisfeldern lagerte. Die ersten Zeichen von Veränderung waren die militärische Besetzung der Bahnüberführungen und der Bahnhöfe und aus den größeren Stationen die Hilfsstellen zur Speisung und Tränkung der Flüchtigen und zur Verabreichung ärztlicher Hilfe. Solche Hilfsstellen findet man jetzt überall an den Bahnlinien, selbst in dem fernen Kyoto.

Kein Zug darf wegen des Belagerungszustandes weiter als Omiya fahren, wo die militärische Absperrung des verheerten Gebietes beginnt. In Omiya auf dem Bahnhofe war ein unbeschreibliches Gedränge von Abwanderern aller Lebensalter, welche freie Fahrt ins Land hatten. Die jungen Mädchen der Töchterschule halfen bei der Speisung der Hungrigen mit Reisklößen und tränkten vor allem die Durstigen mit kaltem Wasser und mit warmem Gerstenaufguß. und die Gymnasiasten standen hilfsbereit auf den Treppen der Überführungen, um alten Leuten und Kindern, Kranken und Verwundeten zu helfen und vor allem das schwere Gepäck zu tragen. Soldaten mit aufgepflanztem Bajonett hielten die Ordnung aufrecht, die übrigens willig beobachtet wurde, über allem schwebte ein unbeschreiblicher Geruch, wie er in Japan sonst unbekannt ist; denn diese Scharen hatten fast zwei Wochen lang des Wassers und der Seife entbehrt und besaßen vor allem bei der Gluthitze keine Kleider zum wechseln, da sie ja meist nur gerettet hatten, was sie gerade auf dem Leibe trugen, und das war vielfach herzlich wenig. Von Omiya aus ging es dann eng zusammengepfercht, so daß man kaum atmen konnte, in einem Hilfszuge die letzte Stunde in der Richtung Tokyo weiter. Die zerstörte Brücke war wieder notdürftig fahrbar, aber der Neue Bahnhof war abgebrannt. So endete die Fahrt in Nippori, der zweiten Station vor Ueno. Von Omiya aus hatten die Spuren der Zerstörung durch das Erdbeben zugenommen, waren es vorher nur umgeknickte Fabrikschornsteine gewesen, so kamen nun immer mehr zusammengestürzte Häuser oder doch wenigstens eingestürzte Dächer der stehengebliebenen Gebäude, ferner auch hin und wieder Erdrisse, und den ganzen Bahndamm entlang ergoß sich ein endloser Strom von Abwandernden. die kleinen Kinder auf dem Rücken und die wenige gerettete Habe in Bündeln in der Hand tragend. Auch an Eisenbahnzügen. die bis auf die Eisenteile verbrannt waren, kamen wir vorüber. In Nippori war wieder dasselbe Bild wie in Omiya. Aber das Militär hielt Ordnung. „Wir haben jetzt zu befehlen", sagte ein kleiner Leutnant.

Und nun ging es in Tokyo hinein. Es war schon Spätnachmittag, und ich kam zunächst nur durch Hongo und Koishikawa, also „erhalten gebliebene" Stadtteile. Aber auch da war kaum ein Haus unbeschädigt, viele zusammengestürzt, andere schief stehend, vor allem waren die Dachziegel abgeschüttelt worden, und [58] an der Straßenseite lagen vor jedem Hause Haufen von Dachziegeln und Schutt. Die Kaiserliche Universität war vom chemischen Laboratorium aus niedergebrannt mit einer unersetzlichen Bibliothek und anderen Sammlungen, das Obergymnasium stand unversehrt daneben. Im Tale unter dem Missionshügel sah es besonders schlimm aus; und doch, in den Trümmern, in den halbzerstörten Häusern und auf den Straßen hatten sich die Bewohner schon wieder eingerichtet, um dort zu wohnen und vor allem, um dort zu arbeiten. Die Läden hatten Waren und Lebensmittel, es herrschte ein emsiges Treiben in Ordnung und Arbeitsamkeit; Militärposten standen an den Straßenecken, vom Militär requirierte Motorwagen eilten durch die breiteren Straßen: das alles gab dem Einreisenden das Gefühl der Beruhigung. Man spürte es, daß die Japaner sich nicht unterkriegen lassen, daß hier Ordnungssinn, Arbeitseifer und Tatkraft waltete. Freilich anders, als zu gewöhnlichen Zeiten. Da die üblichen Beförderungsmittel der Großstadt fehlten und für viele weite Strecken zurückzulegen waren, so sah man unzählige geduldig und entschlossen einherziehen, die Kleider hoch aufgeschürzt, den Rucksack auf dem Rücken, Wanderstäbe in den Händen, wie wenn man im Gebirge wäre. Mit klopfendem Herzen stieg ich den Missionshügel hinauf. Aber siehe da. Alle unsere Gebäude standen, wenn auch mit arg beschädigten Dächern und Lehmwänden. Nur die Steinmauer der Bibliothek zeigte einen Riß. Alle Häuser wären bewohnt. Der Kindergarten hatte sogar seine Tätigkeit wieder begonnen, wenn auch zunächst nur fünf Kinder beisammen waren. Es gab in diesem Stadtteile wieder Wasser und Licht, auch die notwendigsten Lebensmittel, selbst Brot war gerade wieder zu kaufen. Von unseren Angestellten und ihren Familien hatte, Gott sei es gedankt!, keiner Schaden gelitten, und auch unsere Gemeindeglieder schienen alle gerettet zu sein. Die große Volksschule neben unserem Grundstück dient jetzt als Asyl für Obdachlose und war mit diesen gefüllt. Ein alter Buddhatempel hinter dem früheren Haasschen Hause war nachträglich noch umgefallen, zehn Tage nach dem großen Erbeben; denn die Erdstöße dauerten immer noch weiter. In Tokyo soll man in l4 Tagen noch 1.000 gezählt haben. Doch wurden sie immer leichter.

Schlimmer war das Bild, das sich mir am nächsten Morgen bot. Das Arsenal in der Nähe unserer Missionsgebäude war gleich zu Anfang in die Luft geflogen, wie viele Fabriken, zum Glück für uns aber nur der untere Teil, so daß der Berghang unsere Gebäude deckte; die Bahnhöfe der Hochbahn in der Nähe waren von den Flammen verzehrt worden, selbst die Boote in den Kanälen, und vor allem die riesige Unterstadt von Ueno über Shimboshi bis Shiba und nach Osten hin über den Sumidafluß hinüber bis nach Honjo und Fukagawa. also 350.000 Gebäude, drei Fünftel von Tokyo. Der Boden war bedeckt mit Steinresten und Eisenstücken, zuweilen stand noch eine Mauer, hin und wieder auch noch ein feuerfester Lehmspeicher (Kura). Alle die höheren Schulen und Buchhandlungen zerstört, die Kirchen und Tempel, Läden und Wohnhäuser, soweit das Auge reichte. In der Ferne erhoben sich noch mächtige Steingebäude: aber die meisten waren ausgebrannt, wie die große russische Kathedrale in der Ferne, deren Kuppel fehlte. Das bedeutet unermeßliche Verluste für die einzelnen wie für die Gesamtheit, Verluste an äußerem Besitz wie an Kulturgütern. Und dazu kommt der furchtbare Verlust an Menschenleben. Die hölzernen Brücken über den breiten Sumidafluß waren von vielen als ein sicherer Platz im Flammenmeere, das auf beiden Usern wütete, ausgesucht worden. Ach, auch die Brücken verbrannten, von beiden Enden anfangend, mit den Menschen! Im Arbeiterviertel Honjo, wo die Gäßchen zwischen den Holzhäusern nur Pfade sind, wähnten Unzählige sich geborgen, als sie hinter [59] den hohen Steinmauern der militärischen Bekleidungsfabrik waren. Ach, die Lohe schlug von allen Seiten über die hohen Mauern herüber und verzehrte alles, was von ihnen umschlossen war. auch 32.000 Menschen. Vor einigen Tagen wurde bekanntgegeben, daß man in Tokyo schon fast 60.000 Leichen beseitigt habe, die große Mehrzahl davon war aber soweit verkohlt, daß nicht einmal das Geschlecht mehr festzustellen war. Und im benachbarten Yokohama, dem Welthafen Japans, war alles noch viel schlimmer. Denn da waren die ersten Stöße der Erdbeben so furchtbar, daß auch die stärksten Steinmauern zusammenbrachen und alles unter sich begruben. Die Brände vollendeten dann das Werk. Yokohama existiert nicht mehr. Dort ist der Verlust an Menschenleben noch größer als in Tokyo, die Leichen verwesen unter den Trümmern, die Verwirrung ist größer, es scheint die Tatkraft und das Organisationsgeschick von Tokyo zu fehlen. Vielleicht war auch die Hilfe von auswärts nicht groß genug, da die Schiffe im Hafen vor allem die Abwanderer wegschafften. In Tokyo habe ich mich jedenfalls überzeugt, daß die Hauptstraßen wieder freigelegt sind, daß einige elektrische Straßenbahnlinien wieder fahren, und zwar zunächst zur freien Verfügung für jeden Notleidenden, viele frühere Land- und Hausbesitzer haben schon wieder Tafeln mit ihren Namen an der zerstörten Stelle angebracht und sind emsig beim Aufräumen, ab und zu ist schon wieder eine Bude zur Wohnung oder gar als Lädchen eingerichtet — in einer solchen Bude zeigte mir der Familienvater einen Wiener Stuhl als einzige gerettete Habe — und an den Straßenseiten hat sich, die Gelegenheit benutzend, ein ganzes Heer von fliegenden Händlern niedergelassen, die als Obst-, Erfrischungs-, Suppenverkäufer oder gar durch Feilhalten von Karten mit Ansichten der Zerstörungen ein gutes Geschäft zu machen scheinen.

Ich wanderte nun nach den höher gelegenen Stadtteilen hinauf am kaiserlichen Burgbezirke vorbei, wo die hochgelegenen Mauern und Wälle vielfach abgestürzt waren, auch am verbrannten Soldatentempel auf dem Kudan vorüber, und fand in Parks und Tempelhöfen Zelte und Hütten für die Obdachlosen errichtet. Im Stadtteil Kojimachi war ein selbständiger Brand entstanden und hatte einen großen Teil der Wohnungen der vornehmen, auch die Botschaften und Gesandtschaften niedergelegt. Doch steht die deutsche Botschaft, wenn sie auch durch Erdbeben Schaden erlitten hat. Leider fand ich unsere deutsche Kirche hoffnungslos in Trümmern, die Kirchendiener erzählten mir ihr Geschick. Beim ersten Erdbebenstoß erhielten die Gebäude Risse, die Eingangswand fiel heraus und versperrte dem Diener und seiner Familie den üblichen Ausgang, und die Glocke im Turm fing von selbst an zu läuten, was umwohnenden Japanern wie ein Wunder vorkam. da japanische Glocken von Menschenhand mit einem außen angebrachten Balken angeschlagen werden. Dann kam der zweite Erdbebenstoß. Er zerstörte nicht nur das Dach und die Steinwände weiter, sondern stürzte auch die Glocke in die Tiefe, ebenso den oberen Teil des Turmes, brach einen weiteren Teil ab und drehte ihn so um seine Achse, daß er an einer Seite über die Unterlage hinausragt und bei jedem Beben oder Sturm herabzufallen droht, die Vorübergehenden gefährdend. Nun kam der Brand, der von dem Laboratorium der pharmazeutischen Schule ausging, um unsere Kirche je nach dem sich drehenden taifunartigen Winde herumging, schließlich diese doch ergriff und im Innern alles Brennbare, wie Turmtreppe, Dachstuhl, Gestühl, Teppiche, Bibeln, verzehrte, nur dir geborstenen Wände teilweise, die Steinkanzel und den steinernen Altar zurücklassend. Das Ganze muß abgebrochen werden, da der Einsturz droht, und wird so noch weitere Kosten verursachen, hinter der- Kirche stand die japanische Wohnung des [60] Dieners, der dort mit Frau und vier Kindern sich aufhielt. Auch diese fing Feuer und brannte nieder, und die Familie hatte keinen Ausweg, da Kirche und Brand an zwei Seiten und hohe Steinmauern über dem Abhang an der anderen Seite sie einschlossen. Schließlich wurden sie von den Nachbarn herübergeholt, die im eigenen Interesse das brennende Dienerhaus zum Einsturz brachten. Ein kleines japanisches Häuschen in einer Ecke des Grundstücks, das für japanische Bibelstunden benutzt wurde, ist nun die Dienerwohnung. Ein Kirchengebäude in Japan besitzen wir jetzt, da das deutsche Haus in Yokohama schon vor Jahren abgebrannt war, überhaupt nicht mehr. P. Akashi will seine religiösen Versammlungen im Kindergarten zu Koishikawa zu halten suchen, wo aber zunächst keine Einrichtungen dafür vorhanden find. Was der Liebeseifer der Freunde in der Heimat auf Grund von jahrelangen Sammlungen errichtet hat, ist nun zum guten Teile unrettbar verloren.

Was soll ich noch mehr schreiben? Durch das gewaltige Trümmerfeld von Kojimachi suchte ich meinen Weg zum Gebäude der Deutschen Vereinigung, das unversehrt mit seiner wertvollen Bibliothek in einem Garten lag, als eine Oase des Friedens für obdachlose Deutsche und eine Stätte der Zusammenkunft. Dort verglich ich als Leiter des Auskunftsbureaus von Karuizawa meine Listen mit denen des Hilfssausschusses Tokyo. vorläufig wissen wir von 12 Landsleuten, die ihr Leben verloren haben, und es scheint, daß es dabei bleiben wird. Unter den Umgekommenen befindet sich Direktor Sandberg von der Deutsch-Asiatischen Bank in Yokohama, Sekretär Märkel vom deutschen Konsulat in Yokohama, Fräulein Schiff, eine kürzlich herausgekommene junge Erzieherin, und eine ihrer Pflegebefohlenen Schülerinnen, ein 13jähriges Kind, das in der Sommerfrische Hakone verblutete, als das ganze Dorf mit einem Schlage umfiel, und ihm die Beine zerschmettert wurden, auch der auf einer Sommerreise befindliche Shanghai-Kaufmann Carl Rohde, der noch auf der Flucht im Zuge bei Omiya. auf seinem Köfferchen fitzend, einen Schlaganfall bekam. Von den Schweizern kamen u. a. der Arzt Dr. Reidhan, wie auch der Kaufmann L. Müller und sieben andere um, und Dr. Paraviccini, ein weiterer Arzt, soll an den Beinen schwer verwundet darniederliegen.

Die anderen Nationen sind schlimmer daran, als die deutsche. Man zählt Über 200 Europäer und Amerikaner, die ihr Leben verloren haben, vor allem in Yokohama. Die Überlebenden sind meist zu Schiff nach Kobe geflohen, nachdem sie in Yokohama, im Freien kampierend und während der Brände vielfach im Wasser stehend, ohne Nahrung und Trinkwasser bei den immer wiederkehrenden Nachbeben unsägliche Leiden und Angst ausgehalten hatten. Kobe ist von ihnen überfüllt. Aber es wird dort eine großartige Liebestätigkeit ausgeübt; allein an Bargeld hat die Fremdenkolonie schon fast 300.000 Yen aufgebracht. Die meisten der Flüchtigen haben nur das gerettet, was sie am Leibe hatten, und viele, die wohlhabend waren, sind mit einem Schlage ganz arm geworden. Da die Firmen, auch die deutschen, in Tokyo und Yokohama schwer gelitten haben, sie auch zunächst keine Häuser mehr finden können, so werden die Fremdenkolonien sich gründlich lichten, und eine starke Abwanderung wird stattfinden (1). Das Leben wird auch für die Zurückbleibenden teurer und schwieriger werden. Ähn- [61] liches gilt von den Missionen. Unzählige Kirchen liegen in Trümmern, viele Missionsschulen desgleichen, und oh die noch bestehenden die gleiche Schülerzahl haben werden? Auch die Gebäude der Christlichen Jungmänner- und Jungfrauenvereine in Tokyo und Yokohama sind zerstört. Es werden zahlreiche Missionare oder doch deren Familien wegen des Wohnungsmangels, auch zahlreiche Missionslehrer und -lehrerinnen heimkehren müssen. Aber Amerika wird mit seinen reichen Mitteln leichter wieder aufbauen können und das japanische Missionsfeld dadurch noch fester in seine Hand bekommen.

über den japanischen Volkscharakter haben viele Europäer ihre Meinungen endlich aus Anlaß des Erlebten revidiert, nachdem sie viele treue Hilfe erfahren haben, namentlich von seiten ihrer Hausangestellten, besonders der Kinderfrauen, die ihr Leben für ihre Pfleglinge einsetzten. Eine solche Wärterin fand man getötet, sitzend, aber über ihren Pflegling gebeugt, der dadurch gerettet wurde. Auch die wenigen Nahrungsmittel wurden von Unbekannten willig mit den Ausländern geteilt. Auch mir wurde bei der Abfahrt von Bahnhof Nippori von einem mitleidigen Gepäckträger, der mich unter meinem Rucksack abziehen sah, ein Päckchen Militärzwieback in die Hand gedrückt, wie es an die Notleidenden abgegeben wurde. Im Unglück kommt das Innere des Herzens leichter zum Vorschein. In einem Packwagen fahrend, eingekeilt in fürchterlicher Enge zwischen Männern, Frauen und Kindern aller Stände, freute ich mich des Wohlverhaltens, der selbstverständlichen Freundlichkeit. Höflichkeit und gegenseitigen Rücksichtnahme, besonders auf die Kinder. Es sind leider auch furchtbare Dinge vorgekommen aus Anlaß der Koreanerfurcht, die zur Panik wurde und weithin über das Land in unsinniger Weise sich ausbreitete, auch im Verhalten gegen Sozialisten und Bolschewisten, deren Anschläge man fürchtete, so daß ein Gendarmeriehauptmann sich zur Ermordung solcher Leute verleiten ließ, was die Regierung allerdings zu schnellem Einschreiten führte, so daß nicht nur der Schuldige zur Verantwortung gezogen ist, sondern auch der Chef der Gendarmerie und der kommandierende General des Tokyo-Bezirks zur Disposition gestellt wurden. Auch Raub und sonstige Gewaltakte sollen namentlich in Yokohama vorgekommen sein. Aber das allgemeine Urteil über den Japaner wird doch lauten müssen: „Er ist es wett, daß du ihm solches erzeigest" — nämlich, ihn zum Christentum führst: denn er ist „nicht ferne vom Reiche Gottes?"

Wir Deutsche empfinden es mit ganz besonderem Schmerze, daß unser Volk daheim in seiner eigenen schweren Not nichts zur Hilfe für das japanische tun kann. Aber die Japaner wissen das sehr wohl. Als ich auf dem Bahnhof in Karuizawa mit den Meinen Lebensmittel an einem Flüchtlingszuge austeilte und man erfuhr, daß wir Deutsche seien, sagte mir einer der Notleidenden teilnehmend, daß auch mein Volk Schweres zu ertragen habe und in großer Not sich befinde. So verbindet Leiden die Herzen, und das ist auch etwas, wodurch im Unglück „die Werke Gottes" an den Menschen (Joh. 9,3) offenbar werden.

Anmerkung
(1) Diese ersten, düsteren Eindrücke sehen die Lage zu schwierig an. Schon jetzt kann man sagen, daß Tokyo sehr schnell neu erstehen wird. Auch viele Fremde werden bald wieder dort wohnen. Witte.