Untergang der Korvette Cheonan, Südkorea, am 26. März 2010
The Dokdoham, the largest transport ship in Asia (left), conducts rescue
operations for the sunken Patrol Combat Corvette (PCC) Cheonan
near Baengnyeong Island, March 30, 2010.
Alarm im Cyberland
17. Mai 2010
Quelle:
Luftschutzübung in Seoul: Die Versenkung eines Kriegsschiffs hat in Südkorea die Angst vor militärischen Angriffen aus dem stalinistischen Norden verstärkt.
Gehoben: Der Vorderteil des vermutlich von einem nordkoreanischen U-Boot torpedierten südkoreanischen Kriegsschiff Cheonan (© dpa)
Seoul, 15. März 2010
Sirenen heulen. Zehntausende Autos drängen an den Straßenrand. Der pulsierende Verkehr friert in Sekundenschnelle ein. Passanten fliehen von den Bürgersteigen. Alle Radiosender haben ihre Programme unterbrochen. Beethovens Klavierkonzert ebenso wie die südkoreanische Popmusik, die halb Asien hört. Sonore Stimmen geben Hinweise, welche Fluchtwege einzuschlagen, welche U-Bahnschächte aufzusuchen sind. Was zu tun ist gegen den Angriff mit ABC-Waffen. Wie Gasmasken bereitgehalten werden sollen.
Alle Räder stehen still, weil Min Bang-ui läuft, die Luftschutzübung gegen einen Überraschungsangriff aus dem Norden. Sechs Jahrzehnte nach dem heißen Koreakrieg gibt es noch immer keinen Friedensvertrag für das geteilte Land. Die Alten in Seoul probten den Alarm früher Monat für Monat mit großem Ernst. Jetzt gibt es ihn nur noch jedes halbe Jahr, und die neue Generation fühlt sich eher wie Dornröschen im Märchen, wenn sie dann mitten in ihren Geschäften erstarren muss. Nach einer Viertelstunde ist alles vorbei. Genauer: nach 14 Minuten. Da drehen sich schon die Autoschlüssel, die Motoren springen an, und wenn die Sirenen verstummen, schießen die Wagen auf die Überholspuren wie beim Formel-I-Start. Jeder sucht die Poleposition in den Straßenschluchten, eingerahmt von hoch aufgeschossenen Glaspalästen der Weltkonzerne. Über die Großleinwände der Einkaufstürme flimmert Werbung für Produkte der Technologie-Riesen, der Auto- und Schiffbauer, die von Seoul aus die globalen Märkte erobert haben. Nichts scheint den Glauben der jüngeren Südkoreaner an die Machbarkeit von allem und den Erfolg von heute erschüttern zu können. Der Ernstfall ist Geschichte, der Alarm sein Relikt.
Seoul, elf Tage danach, am Morgen des 26.März: Die Regierung ordnet die höchste Alarmstufe an. Ohne Sirenen, aber unter Schock. Das Kriegsschiff Cheonan ist an der umstrittenen Seegrenze zwischen den beiden Staaten explodiert und untergegangen. Ein U-Boot Nordkoreas, so die erste Befürchtung, hat die Korvette versenkt. Doch schon einen Tag später spielt die Regierung jeden Verdacht herunter. Sie zieht eine Explosion an Bord in Betracht. Oder auch eine Seemine. Die Vorsicht ist verständlich. Dem südkoreanischen Präsidenten Lee Myung-bak sind die Hände gebunden. Ein Gegenschlag würde zur Eskalation führen und auch sein Prestige-Projekt gefährden, den G-20-Gipfel im kommenden November in Seoul.
Doch die Wrackteile des Schiffs zwingen die Regierung alsbald zu handeln. Spuren eines Torpedoeinschlags deuten auf einen Racheakt Pjöngjangs hin, nachdem bei einem Schusswechsel im vergangenen November ein nordkoreanisches Marineboot in Flammen aufgegangen war. Präsident Lee räumt jetzt ein: »Kein einfacher Unfall«. Und die südkoreanischen Medien wollen sogar von einem Torpedo aus deutscher Produktion wissen, den die Nordkoreaner auf die Cheonan abfeuerten. Absurd? Nicht ganz: Deutschland ist der drittgrößte Rüstungsexporteur der Welt und Nordkorea auf den Waffen-Schwarzmärkten ein gern gesehener Kunde.
Wie auch immer das Drama im Gelben Meer ablief, für die 46 dabei getöteten Seeleute gilt: Die Cheonan war ihr Schicksal. Und dieses Schicksal, so versichert nun Präsident Lee, habe die Südkoreaner »aus dem Schlaf geweckt und erkennen lassen, dass nur 50 Kilometer weiter nördlich Nordkoreas Artillerie und Raketen ständig auf uns zielen«.
Trotz dieser jahrzehntelangen Geiselhaft ist Seoul zu einer der führenden IT-Metropolen der Welt aufgestiegen. Es hat nur zwei Generationen gebraucht, bis die Südkoreaner aus den Reisfeldern und der japanischen Kolonialherrschaft in den Cyberspace vorgedrungen sind. Ihr rastloser Unternehmergeist hat Hightech und Highlife immer dichter an den letzten Eisernen Vorhang herangeschoben, hinter dem Nordkoreas staatliches Mittelalter beginnt. Seouls junge Generation ist durch Blogs und i-Phones vernetzt und auf Schul- und Uni-Leistungen fixiert wie kaum eine andere. Sie kann sich einen Angriff nur noch als Computerspiel vorstellen. Und selbst die Armee erfasste die Realität jetzt nicht schnell genug. Bis sie den Präsidenten über den jüngsten Vorfall informierte, vergingen unendliche 20 Minuten fünf Minuten mehr, als die Luftschutzübung dauert. Zur Vertuschung fälschte die Marine-Führung den Zeitpunkt des Geschehens.
So steht Seoul in seinem technologischen Hedonismus und der zugleich nie ganz gebannten Gefahr des Untergangs für ein weltweites Syndrom: Man ist gewarnt und denkt nicht weiter nach.
Copyright: DIE ZEIT, 12.05.2010 Nr. 20
Adresse: http://www.zeit.de/2010/20/Kolumne-Suedkorea-Luftschutzuebung
Quelle: DIE ZEIT, 12.05.2010 Nr. 20
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