1976: Erklärung zur Demokratie und Freiheit

A m 1. März 1976 fand ein Gedenkgottesdienst zu Samil Movement von 1919 in der katholischen Myongdong Kathedrale statt. Direkt im Anschluss an den Gottesdienst wurde diese Erklärung verlesen. Die meisten Unterzeichner wurden verhaftet, alle vor Gericht gestellt. Hier finden Sie einige der Dokumente aus dieser Zeit. Die hier eingestellte deutsche Fassung wurde im März 1976 vom EMS/DOAM verbreitet. 


Erklärung zur Demokratie und Freiheit

Seoul, den 1.März 1976

 

ERKLÄRUNG ZUR DEMOKRATIE UND FREIHEIT
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Heute, am 1. März gedenken wir des Aufrufs zur Unabhängigheit der im Jahre 1919 in unserem Land erscholl und in der ganzen Welt vernommen wurde. Anläßlich des 57. Jahrestages der Unabhängigkeitsbewegung in unserem Land geben wir der Überzeugung Ausdruck, daß wir uns denen gegenüber schuldig machen, die ihr Blut für unser Land vergossen haben, wenn wir unseren Entschluß zur Befreiung nicht verwirklichen. Deshalb geben wir die "Erklärung zur demokratischen Befreiung des Vaterlandes" dem In- und Ausland bekannt.

Die nationale Teilung unseres Landes nach der Befreiung von der japanischen Herrschaft (15.8.1945) erdrückte die aufkeimende Hoffnung des Volkes und brachte ihm unzählige Leiden. Das Volk aber hat die Hoffnung nicht aufgegeben. Wir haben den Ruin des Bürgerkrieges überwunden. Durch den Einsatz der Studenten haben wir die Diktatur von Syngman Rhee beseitigt. Schließlich haben wir an der Überzeugung festgehalten, daß eine "liberale Demokratie" das Beste für unser Land ist.

Aber das war nur vorläufig. Dieses Volk wurde wieder einer diktatorischen Regierung unterworfen.

Die Gewaltenteilung besteht nur noch auf dem Papier. Unter dem Vorwand der nationalen Sicherheit wurde die Freiheit des Glaubens und des Gewissens immer weiter eingeschränkt; die Freiheit der Meinungsäußerung, der Forschung und Lehre wurden aufgehoben.

Das Abkommen zwischen Japan und Korea, das unter der jetzigen Regierung zustande kam, hat unsere Wirtschaft von der japanischen Wirtschaft abhängig gemacht. Industrie und Arbeitskräfte werden der ökonomischen Expansion der Japaner geopfert.

Wenn wir auf das Ausland blicken, dann merken wir, daß Korea in der internationalen Gesellschaft dasteht wie ein verlassenes Waisenkind. Die Behauptung, daß die Republik Korea der einzige gesetzmäßige, von der UNO anerkannte Staat auf der koreanischen Halbinsel sei, ist unglaubwürdig geworden. Die gegenwärtige Regierung hat dem zunehmenden Einfluß der Länder der dritten Welt keine Aufmerksamkeit geschenkt, die auf der Weltbühne erschienen sind und einen entscheidenden Faktor zwischen dem Westen und dem Osten darstellen. Die Regierung setzte immer nur auf den Westen. Jetzt aber unterstützt sie der Westen nicht mehr.

Die gegenwärtige Regierung sollte die Verantwortung dafür übernehmen, daß sie das Land in diese Katastrophe geführt hat. Sie sollte sich der Tatsache stellen, daß sie durch Unterdrückung der kritischen demokratischen Kräfte unter den Koreanern im In- und Ausland das Vertrauen der demokratischen Länder verloren hat. Sie sollte nicht der UNO vorwerfen, sie sei durch den zunehmenden Einfluß der Länder der dritten Welt verdorben, sondern zugeben, daß sie selbst blind war für die aufkommende Entwicklung in der Völkerwelt.

Obwohl wir die demokratischen Kräfte unter den Koreanern im In- und Ausland organisieren und stärken sollten, um dadurch Schritt für Schritt der nationalen Vereinigung - unserem sehnlichsten Wunsch - näherzukommen , werden Freiheit und Menschenrechte in unserem Land unter einer Ein-Mann-Diktatur verletzt und aufgehoben.

Infolgedessen hat das Volk die Maßstäbe für die Lebensorientierung und das Vertrauen in die Demokratie völlig verloren und läuft schrittweise in die totale Katastrophe. Wir können in dieser Situation gelassen aber nicht gleichgültig bleiben. Wir müssen deshalb über parteipolitische Strategien und Interessen hinausgehen und für das künftige Schicksal des Landes sorgen. Mit dieser Überzeugung geben wir die "Erklärung zur demokratischen Befreiung des Vaterlandes" ab.

1 . Dieses Land muß auf dem Boden der Demokratie verwaltet werden.

Demokratie ist die Staatsreform der Republik Korea. Deshalb liegt die Legitimität Koreas in der Demokratie. Aus diesem Grund darf die Demokratie um keinen Preis abgebaut werden.

Um der kommunistischen Regierung in Nordkorea, mit der wir in einem ernsten Wettbewerb stehen, standzuhalten, müssen wir die demokratischen Kräfte in unserem Land stärken. Auch wir wissen, daß die ökonomischen Kräfte und die Verteidigungskräfte in unserem Land verstärkt werden müssen; aber ohne die Basis der demokratischen Kraft gleichen die ökonomischen Kräfte zusammen mit den Kräften der Armee einem Haus, das auf Sand gebaut ist.

Denn was ist Demokratie? Demokratie ist nicht irgendein bestimmtes System, sondern eine Haltung und Überzeugung. Die Überzeugung nämllch, daß das beste System das ist, in dem ständig Erneuerungen vorgenommen werden, Erneuerungen, die nach Meinung der Glieder der Gesellschaft erforderlich sind, um die Interessen des Volkes, seine Rechte und die öffentliche Wohlfahrt zu sichern.

Deswegen soll Demokratie nicht so sehr etwas "für das Volk" sein, sondern vor allem "vom Volk" selbst kommen. Denn was für das Volk brauchbar ist, kommt aus dem Volk selbst. Die Regierung muß auf das Urteil des Volkes hören. Sie handelt nicht demokratisch, wenn sie nur denkt, daß sie für das Volk arbeitet. Wer das meint, der hat "Befehl und Gehorsam" als Demokratie mißverstanden. Was das Volk verlangt, ist nicht ein blinder Gehorsam, sondern ein selbständiges Engagement. Das Volk soll das Grundrecht nicht aufgeben, die Regierung überwachen und kritisieren zu können. Denn wenn es dies Recht aufgibt, gibt es die Demokratie auf. Man kann nämlich das Prinzip "Alle Macht geht vom Volke aus" nur in der Freiheit realisieren, d.h. durch die gesicherten Grundrechte des Volkes. Deshalb soll die Freiheit des Volkes garantiert werden, sich ohne Bedrohung für Leib, Leben und Geist äußern zu können.

Wir fordern deshalb:
1. Abschaffung der Notverordnungen, die die Freiheit des Volkes unterdrücken.
Im Zusammenhang damit: Freilassung aller Personen, die verhaftet wurden, weil sie die Forderung nach Demokratie gestellt haben.
Wir fordern Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit, Meinungsfreiheit.

2. Wiederherstellung des Parlamentarismus, der durch die Yushin-Verfassung außer Kraft gesetzt wurde, damit der Volkswille in der Gesetzgebung des Parlaments zum Ausdruck kommen kann. Die Regierung muß sich an die Gesetze halten. Eine Regierung, die diese Bindung fürchtet und behindert, ist nicht gewillt, dem Volke zu dienen, auch wenn sie ständig vom Wohle des Volkes redet.

3. Unabhängigkeit der Justiz. Ohne Unabhängigkeit der Justiz kann das Volk nicht vor der Macht des Staates bewahrt werden. Eine Regierung, die die Justiz lediglich als Dienstmagd hält, zeigt von Anfang an nicht die Absicht, dem Volk zu dienen.

2. Es muß eine grundsätzlich neue Überlegung über Ziel und Form der Wirtschaftspolitik stattfinden.

Wir alle erkennen, daß die ökonomische Entwicklung wichtig ist, um die nationalen Kräfte zu stärken. Aber die ökonomische·Kraft ist nicht einfach mit der nationalen Kraft gleichzusetzen. Die gegenwärtige Regierung hat ihre ganze Kraft für die ökonomische Entwicklung eingesetzt und alles andere dafür geopfert, weil sie das engstirnige Urteil vertritt, daß die ökonomische Kraft identisch sei mit der nationalen Kraft. Was ist das Ergebnis? Die Exportindustrie - geführt von Unternehmen mit ausländischem Kapital – mißbraucht die nationale Ökonomie für ihre eigenen Zwecke. Sie hat in den letzten zwei Jahren (1974 und 1975) ein Handelsdefizit von 4 Milliarden Dollar erbracht, und wir haben jetzt keine Möglichkeit, dieses Defizit zu vermindern. Ende 1975 belief sich die ausländische Anleihe auf 5,78 Milliarden Dollar. Wer soll die Schuld der Anleihen tragen, wenn nicht die Exportindustrie es tut? Die gegenwärtige Regierung hat den Arbeitern das Recht auf Organisierung in Gewerkschaften und das Recht auf Arbeitskampf (Streitrecht) genommen. Sie überließ die Arbeiter und die Bauern der Ausbeutung durch Unternehmen, die durch ausländisches Kapital geführt werden. Die darauf gegründete Politik der gegenwärtigen Regierung zur Stärkung des Landes erfüllte nicht das Versprechen, sie diene der Wohlfahrt des Landes. Der Fehler der Regierung liegt darin, daß sie keine nationale ökonomische Kraft ausgebildet hat, auf der eine Exportindustrie aufbauen· könnte. Es war unvernünftig, unter totaler Vernachlässigung der Landwirtschaft eine riesige moderne Industrie aufzubauen. Die wirtschaftliche Struktur von Korea, die nur auf ausländischen Anleihen beruht, war von Anfang an auf Korruption angelegt.

Wenn es so weitergeht, ist der wirtschaftliche Zusammenbruch nur noch eine Frage der Zeit. Die gegenwärtige Regierung hat schon lange die Fähigkeit verloren, dieses Land aus der ökonomischen Katastrophe herauszuretten. Denn das wirtschaftliche Chaos und die Korruption in dieser Regierung gehen auf die Schaffung der unkontrollierbaren Machtstrukturen zurück.

In dieser kritischen Situation gibt es keinen anderen Ausweg als den Rücktritt der Regierung von der Macht . Um die ökonomische Katastrophe zu vermeiden und um die Reputation in der internationalen Gesellschaft nicht völlig zu verlieren, glauben wir, ~A
daß eine Ablösung der Regierung durch eine andere dringend notwendig ist, damit wir bei Anleiheländern und Banken um einen Rückzahlungsaufschub bitten können.

Wenn die Regierung nicht den Mut hat zurückzutreten, fordern wir, daß - dem Ernst der Lage entsprechend - sofort die derzeitige ökonomische Politik grundsätzlich neu überdacht und geändert wird. Die Regierung darf nicht versuchen, die Tatsachen zu verschleiern und sie zu rechtfertigen, sondern sie muß ihnen ins Auge sehen.

Wir fordern:
Grundsätzliche, intensive Neuüberlegung und Änderung der derzeitigen Wirtschaftspolitik.
Aufhebung des übersteigerten Haushaltsplanes, der ohne Rücksicht auf die Steuerleistung des Volkes aufgestellt wurde.
Gerechte·Einkommensverteilung, um die Kaufkraft unter dem Volk zu stärken.

Wenn das chaotische Phänomen, der Unterschied zwischen den Armen und den Reichen, der eine Brutstätte für den Kommunismus ist, beseitigt wird, und wenn das Vertrauen des Volkes in die freie Demokratie wieder hergestellt wird, dann kann die Regierung ohne weiteres die Initiative zur "nationalen Vereinigung" gegenüber der kommunistischen Regierung in Nordkorea ergreifen.

3. Die "nationale Vereinigung" ist die unbedingte Aufgabe unseres Volkes heute.

Die Tragödie der nationalen Teilung des Landes ist von beiden Regierungen (in Nord- und Südkorea) nach der Befreiung von der japanischen Herrschaft 30 Jahre lang als ein Vorwand zur Diktatur benutzt worden. Daher waren die geistigen und materiellen Quellen, die für das Gedeihen des Staates und den Wohlstand des Volkes mobilisiert werden sollten, ausgetrocknet worden. Es geht über unsere Produktionskapazität und wirtschaftlichen Kräfte, ohne ausländische militärische Unterstützung das bestehende Heer mit mehr als 1 Million Soldaten in Nord und Süd zu erhalten und es mit modernen Waffen auszurüsten. "Es ist unerträglich, daß die Weisheit und Kreativität -des· Volkes, die zur Schöpfung der Kultur mobilisiert werden sollte, destruktiv verschwendet werden.

Darum ist heute die "nationale Vereinigung" unseres Volkes die unbedingte Aufgabe. Die Mauer zwischen Nord und Süd muß durch die Weisheit der Macht von 50 Millionen Gliedern unseres Volkes beseitigt werden. Wenn irgendein Individuum oder irgendeine Gruppe die "nationale Vereingung" für ihre strategischen Zwecke mißbraucht oder sie verhindert, dann müßten sie vor ein Gericht der Geschichte gestellt werden.

Die Chance zur "nationalen Vereinigung" könnte je nach der Haltung der Politiker in Süd- und Nordkorea entweder gemindert oder vergrößert werden. Wenn sie ehrlich für den Staat und das Volk arbeiten wollen, dann müssen sie, indem sie sorgfältig die internationale politische Wetterkarte lesen, die Weisheit und den Mut haben, die Chance, wenn sie kommt, zu ergreifen und zu nutzen. Das ist die-Art von selbständiger Diplomatie, die wir führen müssen.

Dabei gibt es eine letzte Grenzlinie, die wir nicht überschreiten dürfen. Das ist der Grundsatz der Demokratie, daß das beste System und die Politik für das Volk und den Staat nach der Vereinigung des Landes "aus dem Volk selbst" kommen müssen. Die Frage ist, ob wir für die kommende Zeit die demokratischen Kräfte stärken oder unterdrücken. Nur die Stärkung der demokratischen Kräfte ist ein Weg zur Überwindung des Kommunismus und der schnellste Weg zur "nationalen Vereinigung". So werden wir, alle 50 Millionen Menschen, an einem neuen Abschnitt der Geschichte mitarbeiten.

So werden wir die Fackel, die durch die Unabhängigkeitsbewegung des 1. März und des 19. ·April in dem Umsturz aufgehoben wurde, wieder in Asien aufheben.

So werden wir den Charakter der wahren Demokratie aufzeigen in der ganzen Welt, indem wir unsere Erfahrungen in der spannungsreichen Auseinandersetzung zwischen Kapitalismus und Kommunismus praktisch in unserem Land verwirklichen.

So werden wir als vereinigtes Volk ehrlich leben, als Volk eines friedlichen Landes, in dem Gerechtigkeit und Menschenrechte verwirklicht und erhalten werden, als selbstbewußtes Glied in der internationalen Gesellschaft. Lang lebe die Demokratie!

[Unterzeichner*]

Uns-Sok Ham, Leiter einer christlichen Gemeinschaft
Bo Sun Yun, ehem. Staatspräsident
Il Hyong Chung, Abg. d. Oppositionspartei
Kwan Suk Kim, Pfarrer u. Generalsekretär d. NationaIen Kirchenrates
Myong Gi Eun, Pfr. u. Moderator der Presbyterian. Kirche (PROK)
Dae jung Kim, Präsidentschaftskandidat d. Oppositionspartei
Ban Ung Yon, Pfr. der Presbyt. Kirche
Byung Mu Ahn, Prof. d. Theolog. Hochschule Hankuk
Moon Yong Rhee, Prof. d. Univer. Korea, Vors. d. Bundes d. chrl. Professoren
Nam Dong Suh, Prof. d. Univ. Yonsei
Oh Chung Lee, Frau Professor an der Frauen Universität Seoul, Vors. d. kirchl. Frauenvereinigung.

* Diese Liste enthält falschgeschriebene Namen und ist unvollständig. Eine komplette Liste siehe hier.  

 

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Liste der Angeklagten 
[Anm. YUN Po Sun war der emeritierte Staatspräsident; LEE Tae Yong die erste Frau als Juristin; die meisten "unemployed" waren entlassene Professoren; Moon Jung Hyun oder Moon Jeong-hyeon engagiert sich heute (2020) im Gangjeong Village auf Jejudo]

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