2015: Bewegende Lebensgeschichten
Sinti/Roma und Kirchen
Quelle: SCHWÄBSICHE ZEITUNG, 30.10.2015
Günter Peitz
Bewegende Lebensgeschichten aus 100 Jahren
Das neue Buch des Journalisten Wolfram Frommlet: Wesentlicher Beitrag zur Erinnerungskulur in Ravensburg, Biberacher Verlagsdruckerei
Ravensburg sz
Als „wesentlichen Beitrag zur Erinnerungskultur und zum historischen Verständnis unserer Stadt“ werten Ravensburgs Oberbürgermeister Daniel Rapp und Stadtarchivar Andreas Schmauder in ihrem gemeinsamen Vorwort ein Buch, das am Dienstag, 3. November, im Schwörsaal vorgestellt wird. Und das ist nicht übertrieben. Denn was der Journalist und Mitarbeiter der „Schwäbischen Zeitung“ Wolfram Frommlet (69), Ravensburger mit Wurzeln in der Unterstadt, auf 144 Seiten auch mit vielen noch nie gesehenen wertvollen alten Fotos ausbreitet, sind Menschenschicksale, die den Leser nicht kalt lassen. „Ravensburger Lebensgeschichten aus 100 Jahren – von Liebe und Leid, von Arbeit und Würde“ lautet der Titel.
Es handelt sich um ein eindrucksvolles Kapitel Stadtgeschichte, erzählt aus der Perspektive einfacher, geradliniger Menschen, Stadtgeschichte „von unten.“ Ähnlich wie bei seinen bisher sieben Dokumentarfilmen hat es der Autor auch bei diesen Texten wieder verstanden, das Vertrauen betagter Ravensburger zu gewinnen und sie zum Sprechen über ihr oft hartes Leben zu bringen, auch über das ihrer Eltern und anderer Verwandter im Kaiserreich, der Weimarer Republik, während der Nazizeit, der Besatzungszeit und der Bundesrepublik. Wobei ihm seine Fähigkeit konzentriert zuhören zu können, die richtigen Fragen zu stellen und nicht zuletzt die Tatsache, dass er sich in dieser Stadt bestens auskennt und schwäbisch spricht, zugute kamen. Wie viele Stunden er sich da hinein gekniet hat, kann er selbst nicht mehr sagen. Entstanden ist ein Werk, das auch durch seine klare, schnörkellose Sprache besticht. Der Verfasser nimmt sich zurück, lässt die alten Menschen erzählen. Man kann nicht mehr aufhören mit dieser spannenden Lektüre.
Starke, mutige Frauen
Unglaublich starke, mutige Frauen kommen zu Wort, so gleich am Anfang in einem besonders einfühlsam formulierten Kapitel Anneliese Schuler, die Mutter von Stadtrat August Schuler, die kein Blatt vor den Mund nimmt. „A g'schindige Zeit“ sei das früher gewesen, erinnert sie sich. Von wegen gute, alte Zeit! Und auch heutzutage, so ihre bittere Erkenntnis, ist die letzte noch intakte Mühle in Ravensburg, die Schulermühle, alles andere als ein Schleckhafen: „Die Großen (Mühlen) machen uns kaputt.“ Von Arbeit, nichts als Arbeit berichtet auch Hilde Haller, die Mutter der ja auch alles andere als untätigen „Ratsstuben“-Wirtin Claudia Haller-Schuler. Hilde Haller, das Mädle aus der Traditionswirtschaft am Marienplatz, wurde in jungen Jahren Bäuerin, heiratete den Landwirt Franz Haller in Berg und schaffte es zusammen mit ihrem Mann, den Hof hochzubringen. Heute genießt sie Altersglück in einer intakten Familie.
Ludwig Lipp, der 2013 verstorbene Geschäftsmann und Vorsitzende der Heilig-Nacht-Sänger, erzählt, dass Hunger ein ständiger Begleiter seiner Kindheit war. Er hatte 15 Geschwister – damals die kinderreichste Familie in der Unterstadt. Als Partimsbube hat er sich bewährt, auf Beerdigungen gesungen, um etwas Geld hinzuzuverdienen - und es bis auf den letzten Pfennig bei der Mutter abgeliefert. Das Singen war ihm fast bis zu seinem Tod Lebenselixier.
Natürlich ist in dem Buch nicht zuletzt von der Nazizeit und dem Zweiten Weltkrieg die Rede und davon, wie es hochanständigen Ravensburgern erging, die eben nicht wie viele Mitbürger damals flugs ihr Mäntelchen in den Wind hingen. August Dresely zum Beispiel, Gipser- und Stuckateur-Meister, gläubiger Katholik, ließen die Nazis spüren, dass er erlaubt hatte für die Fronleichnamsprozession 1938 einen Altar vor seinem Haus aufzubauen. Die Prozession war den Nazis ein Dorn im Auge. Und so musste der Meister, der einen Staatsauftrag erledigt hatte, existenzbedrohend lange warten, bis die Rechnung endlich bezahlt wurde. Doch nach dem Krieg, so erinnert er sich, da reihten sich die alten Nazis in die erste wieder stattfindende Fronleichnams-Prozession flugs ein. „De Schlimmste truget sogar de Himmel.“ Seitdem ist er nicht mehr mitgegangen.
Übel mitgespielt wurde auch dem Brauer und Gastwirt Gustav Bechter, der auch kein Freund der Nazis war. Wegen angeblicher steuerlicher Verfehlungen durfte er kein Bier mehr ins Konzerthaus liefern, beschloss der von den Nazis dominierte Gemeinderat. Gustav Bechter und seine Frau Anna, geborene Bulling, riskierten übrigens viel, wenn nicht ihr Leben, erfährt der Leser des Buches. Steckten sie doch heimlich jüdischen Ravensburger Mitbürgern Essensgutscheine zu. Hätten die Nazis davon Wind bekommen, wäre es dem Ehepaar übel ergangen. Der Brauer und Gastwirt gehörte zu den Ravensburger Leuchttürmen der Menschlichkeit in einer dunklen Zeit, denen Wolfram Frommlet ein Denkmal gesetzt hat, so wie auch Frau Schweitzer. Ihre Tochter Brigitte Waldbaur berichtet, ihre Mutter habe im März 1945 einfach nicht mitansehen können, dass sich niemand um ausgemergelte russische Zwangsarbeiter kümmerte, die am Bahnhof ohne Verpflegung dahinvegetierten. Sie brachte ihnen regelmäßig eine große Kanne Milchkaffee und versteckte sogar ein schwer krankes russisches Ehepaar in ihrer Wohnung bis zum Einmarsch der Franzosen.
Besonders schlimm erging es den beiden Stadträten Hermann Stotz (KPD) und Heinrich Matthiesen (SPD). Sie wurden nicht nur wie Ernst Hausser, Ladeninhaber in der Karlstraße und Mitglied der Zentrums-Fraktion des Gemeinderates,Vater des bekannten Fotografen Erich Hausser, von den Nazis aus dem Stadtparlament hinausgeworfen. Die Braunen sperrten Stotz und Matthiesen zunächst im „Roten Haus“ ein und verlegten sie dann für fünf Monate in das Konzentrationslager auf dem Heuberg bei Stetten am Kalten Markt. „Schutzhaft“ nannten das die Braunen. Der Sozialdemokrat Heinrich Matthiesen überlebte Nazizeit und Krieg. Hermann Stotz, der einzige Kommunist im Stadtparlament bis zu seiner Verhaftung, gehörte später an der Ostfront zu den vielen vermissten Soldaten. Nachts um vier hatte die Gestapo mit Schäferhund im Haus von Hermann Stotz in der Saarlandstraße gestanden. Seine drei kleinen Kinder wachten auf. Von der Angst in dieser Nacht erzählten sie als Erwachsene noch lange ihren eigenen Kindern.
Sie kamen stets im Morgengrauen, die Schergen, so auch am 13. März 1943, als die Gestapo im Ummenwinkel 35 Sinti, zum Teil ganze Familien, vom Kleinkind bis zur Großmutter, für das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau selektierte. Nur sechs sollten diese Hölle überleben. Was Julius und Magdalena Guttenberger Wolfram Frommlet an fürchterlichen Schilderungen anvertrauten, „sind die bewegensten in meinen 50 Berufsjahren; sie erfüllten mich mit Wut, Scham und Trauer“, bekennt der Autor in seinem Vorwort. Zu den wenigen Überlebenden gehörte Martha Reinhardt (gestorben 2009). Sie blieb aber Zeit Lebens traumatisiert.
Elende Baracken
Nach Kriegsende, so ist in dem Buch in einem weiteren Kapitel nachzulesen, waren die überlebenden Sinti zwar sicher vor Verfolgung, doch blieben ihre Lebensverhältnisse lange bedrückend. Sie hausten in sieben elenden Baracken, bis in die siebziger Jahre ohne Toilette, sogar bis 1984 ohne fließendes Wasser. Keine Krankenversicherung, nicht einmal kostenlose Zahnbehandlung für den in Dachau von einem brutalen SS-Wachmann zertrümmerten Unterkiefer eines der Opfer. Die älteren Bewohner, so ist überliefert, hatten generell Angst insbesondere vor älteren Ärzten, wegen schlimmer KZ-Erfahrungen. Ihr Vertrauen genossen nur Dr. Burkhardt und Dr. Eckers - und zwei engagierte Kommunalpolitikerinnen, beide von der SPD, Ingeborg Geddert, Gemeinderätin in Berg und Margarethe Keddig, Stadträtin in Ravensburg, die sich tatkräftig dafür einsetzten, dass sich die Lebensverhältnisse im Ummenwinkel besserten, inzwischen auch wieder baufällige Holzhäuser für die Bewohner errichtet wurden. Auch der damalige Bürgermeister Roland Albrecht und die Stadträte Wilfried Krauss und Kurt Rückstieß werden in diesem Zusammenhang positiv erwähnt. Schlecht kommt eine namentlich nicht genannte CDU-Stadträtin weg. Sie hatte zu wissen begehrt, ob die „Zigeuner“ im Ummenwinkel denn auch Steuern zahlen und wie viel.
Übrigens liest man mit Vergnügen in dem Buch noch einmal eine Hommage, die Wolfram Frommlet bereits in der „Schwäbischen Zeitung“ dem hochbetagten Kurt Rückstieß anlässlich eines runden Geburtstages gewidmet hatte. Dieses Kapitel gehört zu der leichteren, aber keineswegs seichten Lektüre-Kost, die sich der Leser nach den düsteren Ummenwinkel-Geschichten wahrlich verdient hat. Dazu gehört auch der Beitrag unter der Überschrift: „Die Dienstmädchen waren katholisch.“ Es geht um die Federburgstraße, wo sich wohlhabende, städtisch geprägte evangelische Herrschaften (Stichwort „Blutwurscht“) in der Gründerzeit prächtige Villen gebaut hatten. Im Unterschied zur protestantischen Herrschaft waren die Dienstmägde, Köchinnen und Kindermädchen katholisch und kamen vom Land. Am Sonntag durften die Bediensteten in die Kirche, aber bereits morgens um sechs, damit sie ab 7 Uhr das Frühstück ihrer Arbeitgeber herrichten konnten.
Eine Liebeserklärung
Zu den Beiträgen, die der Autor aus eigenem Erleben beigesteuert hat, gehört seine Liebeserklärung an die alte Ravensburger Unterstadt, in der er aufgewachsen ist. So kann man das pulsierende Leben und Treiben in einem schaffigen Stadtteil nur schildern, wenn man es von Kindesbeinen an genossen und ein vorzügliches Gedächtnis hat. Die Unterstadt war damals zwar noch nicht annähernd so perfekt saniert wie heutzutage, dafür aber „ein täglicher Lernort für alle Sinne“, schwärmt Wolfram Frommlet. Der Autor nennt zahlreiche Namen, angefangen von seinem fabelhaften Großvater Josef Madlener, Friseurmeister, Leibfriseur des französischen Stadtkommandanten und Puppendoktor, Namen, die sicher auch noch dem einen oder anderen älteren Leser etwas bedeuten. Unmöglich, ihnen in diesem Rahmen allen gerecht zu werden. Aber diese Zeilen sollen ja auch nur Appetit machen auf ein Buch, aus dem das eine oder andere Kapitel das Zeug hat, in die Geschichtsbücher für den Schuluntericht hierzulande übernommen zu werden.
Die Präsentation des Buches „Von Liebe und Leid, von Arbeit und Würde“ von Wolfram Frommlet findet am Dienstag, 3. November, 20 Uhr, im Schwörsaal statt. Zur Begrüßung spricht Michael Riethmüller, Geschäftsführer der Buchhandlung Ravensbuch, zur Entstehung des Buches Achim Zepp, Verlagsleiter der Biberacher Verlagsdruckerei, in der das Werk erschienen ist. Der Autor liest danach einige Passagen. Das 144 Seiten umfassende Buch ist zum Preis von 22,80 Euro im Buchhandel erhältlich.