2016: Kein Wort

Justitz nach dem II. Weltkrieg - bis heute

Süddeutsche Zeitung,  19.04.2016,  Auschwitz-Prozess
Download als pdf

Kein Wort

Von Hans Holzhaider

Reinhold Hanning, 94 Jahre alt, verwitwet, ist angeklagt, als Mitglied des SS-Totenkopf-Sturmbanns, der Wachmannschaft im Konzentrationslager Auschwitz, Beihilfe zum Mord in mindestens 170 000 Fällen geleistet zu haben. Als Angeklagter hat er das Recht zu schweigen, und er tut es.

Jakob Wendel, 92, war auch Mitglied der Wachmannschaft in Auschwitz. Er ist 1948 von einem polnischen Gericht zu fünf Jahren Haft verurteilt worden. Deshalb kann er heute nicht mehr angeklagt werden. Ne bis in idem, nicht zweimal für dasselbe, das hat angeblich schon der alte Grieche Demosthenes gesagt. Im modernen Juristenjargon nennt man das Strafklageverbrauch. Deshalb steht Jakob Wendel nur als Zeuge vor dem Landgericht Detmold. Als Zeuge muss er reden, und er tut es.

Jakob Wendel stammt aus Be?ka, einem Dorf in Serbien, nordwestlich von Belgrad. Dort siedelten seit Mitte des 19. Jahrhunderts viele Donauschwaben. "Volksdeutsche" nannte man sie in Hitlerdeutschland. Im September 1942, berichtet er, seien er und die anderen Männer im Dorf zur SS eingezogen worden. Gefragt habe man ihn nicht. Er war 19. Man setzte sie in einen Zug nach Wien, alphabetisch geordnet; die mit den Anfangsbuchstaben SCH bis W in den letzten Waggon. "In Wien wurde der letzte Waggon abgehängt und ging direkt nach Auschwitz", sagt Wendel. Niemand habe ihnen gesagt, wohin es geht. "Wo der Zug uns ausgeladen hat, da sind wir gelandet." Ein Vierteljahr seien sie ausgebildet worden. Er bleibt vage, was den Inhalt der Ausbildung betrifft. Schießen, hinlegen, aufstehen. "Auch weltanschaulich?", fragt Staatsanwalt Andreas Brendel. Er leitet die Zentralstelle für NS-Verbrechen in Nordrhein-Westfalen. "Ja, klar, weltanschaulich auch", sagt der Zeuge.

Der Angeklagte blieb nach dem Krieg unauffällig. Er hatte mit seiner Frau einen Milchladen
-------------------------------------------------------------------------------

Nach der Ausbildung: der Wachdienst. Eine Woche lang Tagdienst auf dem Turm, die zweite Woche Nachtdienst. Jeweils zwölf Stunden, auch sonntags. "Die Gaskammern hat man ja vom Turm aus gesehen", sagt der Zeuge. "Wir haben natürlich auch gesehen, wie die da reingeführt wurden." Wusste er, was da geschah mit den Menschen? "Na klar wusste man das. Es gingen viele hinein, und keiner kam heraus. 20 Prozent kamen zur Arbeit, die anderen waren alle weg." Hat man auch Schreie gehört? "Ja, da hat man schon Schreie geh?rt, wenn die keine Luft mehr bekommen haben." Was ist mit den Leichen passiert? "Da waren ja so Loren, und die Juden vom Sonderkommando haben die Loren hin- und hergefahren. Rechts und links von der Gaskammer waren ja die Krematorien, da hat's Tag und Nacht geraucht."

Dem Zeugen wird vorgehalten, was er 2014 in einem Interview mit dem Spiegel gesagt hat: Er habe gesehen, wie ein Fahrzeug mit zwei Insassen bis vor die Gaskammer fuhr, die hätten dann den Inhalt einer Dose in die Rohre geschüttet, die aus der Gaskammer ragten. "Da hat man gewusst, das ist das Todeskommando." Ja, bestätigt Jakob Wendel, das hat er gesehen. Ob ihm klar gewesen sei, dass das ein Verbrechen war? "Natürlich war das klar", sagt Jakob Wendel. "Das konnte doch nicht richtig sein. Ich war doch evangelischer Christ, ich war im Kirchenchor." Ob er sich geschämt habe? "Na klar. Das hätten wir doch nie gedacht, dass in Deutschland so was möglich ist." Einmal, sagt der Zeuge, habe er seinen Eltern geschrieben, "dass ich trotzdem an Jesus glaube". Das sollte die Eltern trösten, nachdem sein Bruder im Partisanenkrieg gefallen war.

Die Briefe seien alle kontrolliert worden, denn es war ja streng verboten, etwas von dem zu erzählen, was in Auschwitz geschah. Da sei er dann zu seinem Vorgesetzten bestellt worden. "Der sagte zu mir: ,Ein SS-Mann, der an Jesus glaubt, ist mir noch nie begegnet'." Er habe aber, sagt der Zeuge, dadurch keine Nachteile gehabt. "Ich habe meinen Dienst gemacht und war pünktlich."

Es ist Mittag geworden. Pünktlich um zwölf Uhr pflegen Reinhold Hannings Verteidiger, Johannes Salmen und Andreas Scharmer, das Gericht nachdrücklich darauf hinzuweisen, dass die Zeit für diesen Tag abgelaufen ist. Hanning ist laut amtsärztlichem Attest nur für zwei Stunden täglich verhandlungsfähig, da sei, sagen die Verteidiger, auch die Anfahrt mit einzurechnen, der ganze Presserummel, das alles belaste den Angeklagten enorm. An den ersten beiden Verhandlungstagen konnte Hanning den Gerichtssaal noch selbständig, auch ohne Gehhilfe, betreten, seit dem dritten Tag führt man ihn im Rollstuhl herein. Wenn man zuschaut, wie er sich mühsam vom Auto in den Rollstuhl helfen lassen muss, hat man nicht den Eindruck, dass er simuliert.

Wie es ihm im übrigen geht, erfährt man nicht. Die freundliche Nachfrage zu Beginn der Sitzung seitens der Vorsitzenden Richterin Anke Grudda haben sich die Verteidiger verbeten: Der Mandant beantworte keine Fragen, auch keine Fragen nach seinem Gesundheitszustand.

An neun Verhandlungstagen hat Reinhold Hanning bisher kein einziges Wort gesprochen, auch seine Personalien mussten aus den Akten vorgelesen werden. Man wei? nicht viel ?ber ihn. Aus den Ermittlungsakten ergibt sich, dass er 1921 im Kreis Lemgo-Lippe als Sohn eines Arbeiters geboren wurde, dass er mit 13 Jahren in die Hitlerjugend eintrat und sich am 25. Juni 1940 freiwillig zur Waffen-SS meldete. Mit der SS-Division "Das Reich" nahm er an der Besetzung Hollands, Frankreichs und Serbiens teil. Im September 1941 wurde er an der Ostfront verwundet, im Januar 1942 nach Auschwitz abkommandiert. Im Juni 1944 wurde er in das Konzentrationslager Sachsenhausen versetzt, im Mai 1945 geriet er in britische Gefangenschaft, aus der er drei Jahre sp?ter entlassen wurde.

?ber seine Lebensverh?ltnisse in der Nachkriegszeit, hei?t es in der Anklage, sei weiter nichts bekannt. Die Verteidiger geben eine ?u?erst knappe Erkl?rung zur Person des Angeklagten ab: Nach der Entlassung habe er zun?chst ein Jahr als Koch bei der britischen Garnison in Lage gearbeitet, von 1949 an als Fahrer und Verk?ufer in einem Molkerei-Fachgesch?ft. Das habe er 1969 mit seiner Frau ?bernommen und bis 1984 weitergef?hrt. Zu gegebener Zeit, teilen die Verteidiger mit, w?rden sie f?r ihren Mandanten eine Erkl?rung abgeben. Bisher ist das nicht geschehen.

71 Jahre sind vergangen, seit das Konzentrationslager Auschwitz von sowjetischen Soldaten befreit wurde. Viele, die an dem beispiellosen Massenmord beteiligt waren, viele, die sich pers?nlich in viel h?herem Ma? schuldig gemacht haben als Reinhold Hanning, sind ungestraft geblieben, weil die Justiz der Bundesrepublik Deutschland jahrzehntelang kein besonderes Interesse an ihrer Verfolgung hatte. Nun, ein Menschenleben sp?ter, wird eine Handvoll uralter M?nner angeklagt, die, k?nnte man sagen, das Pech hatten, gen?gend lange bei einigerma?en stabiler Gesundheit zu ?berleben. Ist das gerecht?

Es gibt andere, die auch lange genug ?berlebt haben, die die Frage anders stellen: Wer k?nnte auch nur eine Sekunde lang daran zweifeln, dass Menschen, die am entsetzlichsten Massenmord der Geschichte mitgewirkt haben, sich daf?r vor einem ordentlichen Gericht verantworten m?ssen? Mit welchem Recht k?nnten diese Leute fordern, in Ruhe gelassen zu werden, wenn andere ohne jedes Gerichtsurteil dazu verdammt sind, den Schrecken von Auschwitz ein Leben lang mit sich herumzutragen?

Hat ein ehemaliger SS-Mann Albtr?ume? Er hat das verbrannte Fleisch doch auch gerochen
-------------------------------------------------------------------------------

Menschen wie Justin Sonder, wie William Glied, wie Leon Schwarzbaum, wie Tibor Eisen. Sie haben sich dem Verfahren gegen Reinhold Hanning als Nebenkl?ger angeschlossen, sie alle haben in Auschwitz Angeh?rige verloren - M?tter, V?ter, Geschwister, Onkel, Tanten. Sie alle tragen ihre eigene Erinnerung an Auschwitz in sich, ?ber das hinaus, was alle in gleicher Weise erlebt haben - die qualvolle Fahrt, Tage und N?chte zusammengepfercht in Viehwaggons, ohne Wasser, ohne Toilette; die Ankunft an der Rampe in Auschwitz-Birkenau, das Gebr?ll, das Chaos, das Auseinanderrei?en der Familien, die Verlassenheit, die Dem?tigungen, die Schl?ge, der Hunger. F?r jeden von ihnen gibt es Augenblicke, Szenen, die sie bis heute in ihren Tr?umen verfolgen, die sich tief ins Ged?chtnis eingebrannt haben, wie die T?towierung auf ihren Armen, mit der sie vom Menschen zur Nummer degradiert wurden.

F?r William Glied, 85, heute wohnhaft in Toronto, Kanada, war es dies: "Wir standen drau?en. Ein SS-Offizier n?herte sich. Er schaute meinen Vater an, gab ihm einen gewaltigen Schlag ins Gesicht, und schrie: ,Hut ab, Schweinehund'. Mein Vater stand da, M?tze in der Hand, und entschuldigte sich. Mein Vater, zu dem ich aufschaute wie zu einem Gott, den alle, die ihn kannten, sch?tzten und achteten - er stand da, geschlagen und erniedrigt. Dieser Vorfall belastet mich jeden Tag, bis an mein Lebensende."

F?r Justin Sonder, 92, aus Chemnitz, war es dies: "Wir kamen vom Arbeitseinsatz zur?ck ins Lager. Da waren am Appellplatz Galgen aufgebaut. Wir mussten uns vor den Galgen aufstellen. Das kam ?fters vor. Aber diesmal stand da ein Junge. Er war 16 Jahre alt. Er kam aus Saloniki. Ein SS-Offizier sagte, er wird mit dem Tode bestraft, weil er w?hrend eines Fliegeralarms ein St?ck Brot entwendet hat. Wir dachten, sie w?rden nicht Ernst machen, aber sie machten Ernst. Es war ganz still. Ehe sie ihn aufh?ngten, sagte der Junge ein Wort, das man in jeder Sprache versteht: Mama. Dann ist er in den Tod gegangen. Ich werde es nie vergessen."

F?r Leon Schwarzbaum aus Berlin, 94, ist es das Bild eines Lastwagens auf dem Weg zur Gaskammer. Auf der Ladefl?che, zusammengepresst, nackte Menschen. "Sie weinten, sie schrien, sie reckten die Arme zum Himmel. Es war wie in Dantes Inferno, der f?nfte H?llenkreis. Die Bilder verfolgen mich bis heute, ich tr?ume h?ufig davon."

F?r Tibor Eisen aus Toronto, 86, ist es eine Szene in der Dusche. "Einer hatte eine Brille mit sehr dicken Gl?sern. Er verlor sie, b?ckte sich, ein SS-Mann trat ihm mit dem Stiefel an die Schl?fe. Er fiel hin, der SS-Mann stampfte auf seine Brust. Ich h?rte die Rippen krachen. Er stampfte weiter, bis der Mann tot war. Wir taten so, als w?re nichts geschehen. Bis zum heutigen Tag muss ich mit diesen Erinnerungen leben. Im Traum sehe ich meine Gro?eltern, meine Mutter, meine Geschwister in eine ?berf?llte Gaskammer gesperrt, ich sehe das Gas vom Boden aufsteigen, sehe, wie sie ersticken und sterben."

Man w?sste gerne: Wird auch Reinhold Hanning von Albtr?umen verfolgt? Niemandem, der in Auschwitz war, in welcher Funktion auch immer, kann entgangen sein, was dort geschah. Der Zeuge Jakob Wendel hat das eindringlich geschildert. Niemand konnte die Flammen ?bersehen, die Tag und Nacht aus den Schornsteinen der Krematorien schlugen, niemand konnte sich dem Gestank nach verbranntem Fleisch entziehen. Konnten Menschen wie Reinhold Hanning das alles einfach hinter sich lassen? Konnte er 35 Jahre lang in seinem Milchladen stehen, ohne von Erinnerungen bedr?ngt zu werden?

"Schauen Sie mir in die Augen", sagt eine Auschwitz-?berlebende zu ihm. Aber er schaut nicht
-------------------------------------------------------------------------------

Man erf?hrt es nicht. Reinhold Hanning h?rt die Geschichten, die die Zeugen erz?hlen, regungslos, mit gesenktem Kopf. Nicht einmal schaut er auf, auch nicht, wenn ein Zeuge oder eine Zeugin ihn pers?nlich anspricht. "Herr Hanning", sagte Leon Schwarzbaum fast beschw?rend, "wir sind fast gleich alt, und bald stehen wir vor dem h?chsten Richter. Ich m?chte Sie auffordern: Sprechen Sie dar?ber, was Sie und Ihre Kameraden getan und erlebt haben." Und Hedy Bohm, 84, sagte zu Reinhold Hanning gewandt: "Schauen Sie mir in die Augen." Sie war 17, als sie mit ihren Eltern nach Auschwitz verschleppt wurde. "Schauen Sie mich an! Haben Sie keine Angst!"

Am f?nften Prozesstag r?gen Hannings Verteidiger die Versuche der Zeugen, den Angeklagten zum Reden zu bringen. "Zeugen sind nicht berechtigt, den Angeklagten pers?nlich anzusprechen und ihm Vorhalte zu machen", sagt Rechtsanwalt Salmen. Allenfalls nach Beendigung ihrer Zeugenaussage k?nnten sie, in ihrer Rolle als Nebenkl?ger, Fragen an den Angeklagten richten. Fragen, das haben die Verteidiger am ersten Prozesstag klargestellt, die Reinhold Hanning nicht beantworten wird.

Das Gericht m?sste alle diese Zeugen nicht h?ren. Was in Auschwitz geschah, ist gesichertes historisches Wissen, durch zahllose Dokumente und Aussagen belegt. Niemand erwartet, dass einer der Zeugen Reinhold Hanning pers?nlich erkennt - er war einer unter vielen, einer in der grauen Schar der Bewacher, keiner, der den Blick auf sich gelenkt h?tte durch besondere Grausamkeit oder besondere Freundlichkeit. "Der geschichtliche Kontext ist allgemein bekannt", sagt die Vorsitzende Richterin Anke Grudda, "dar?ber ist eine Beweisaufnahme nicht erforderlich. Wir haben zu kl?ren: War er in Auschwitz? In welchem Zeitraum? Welche T?tigkeit hat er dort ausge?bt? Aber dem Anliegen der Opfer, ihre Geschichte vor einem deutschen Gericht darzustellen, wollen wir nachkommen."

Das war nicht immer so in deutschen Strafprozessen. Jahrzehntelang weigerten sich die Gerichte, den Massenmord in den nationalsozialistischen Vernichtungslagern als ein einheitliches, arbeitsteilig organisiertes Verbrechen zu betrachten, sodass jeder, der - an welcher Stelle auch immer - daran beteiligt war, sich zumindest der Beihilfe schuldig machte. Mit dieser Auffassung war der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer beim ersten deutschen Auschwitz-Prozess 1963 in Frankfurt gescheitert. Nur der wurde verurteilt, dem ein eigenh?ndig begangener Mord nachzuweisen war. Oft scheiterte die Beweisf?hrung daran, dass ein ?berlebender sich nicht mehr festlegen konnte, ob der T?ter ein Unter- oder ein Obersturmf?hrer war, ob er einen Gummikn?ppel oder einen Holzpr?gel verwendet hatte, ob es zur Tatzeit geregnet hatte oder nicht.

Nur einmal erwacht er aus seiner Lethargie. Als es Bilder von H?? und Mengele zu sehen gibt
-------------------------------------------------------------------------------

Solch peinliche Befragungen bleiben den Zeugen im Prozess gegen Reinhold Hanning erspart. "Die T?tigkeit der Wachm?nner in allen Bereichen des Wachdienstes", hei?t es in der Anklageschrift, "ist f?r den Betrieb des Lagers erforderlich und f?rdert und erm?glicht die arbeitsteilige Vernichtung der Opfer." Die Ableistung dieses Dienstes stelle "eine faktische Solidarisierung mit den Hauptt?tern dar, selbst wenn der Beschuldigte die Mordtaten insgeheim abgelehnt haben sollte". Eine h?chstrichterliche Best?tigung dieser Rechtsauffassung steht allerdings noch immer aus.

Das wegweisende M?nchner Urteil gegen John Demjanjuk, den SS-Helfer im Vernichtungslager Sobibor, aus dem Jahr 2011, wurde nie rechtskr?ftig, weil Demjanjuk starb, ehe der Bundesgerichtshof (BGH), ?ber die Revision entscheiden konnte. Auch im Revisionsverfahren im Fall des ehemaligen SS-Mannes Oskar Gr?ning, der im Juni 2015 vom Landgericht L?neburg zu vier Jahren Haft verurteilt wurde, legt der BGH keine besondere Eile an den Tag. Zehn Monate nach dem L?neburger Urteil ist das Verfahren immer noch in Karlsruhe anh?ngig. Wenn der BGH lange genug zuwartet, wird die Entscheidung mangels weiterer Angeklagter ohnehin obsolet. In Neubrandenburg ist der Prozess gegen den 95-j?hrigen ehemaligen SS-Sanit?tsdienstgrad Hubert Zafke im ersten Anlauf geplatzt, weil die Prozessparteien ?ber die Verhandlungsf?higkeit des Angeklagten streiten. In Hanau sollte am 13. April die Verhandlung gegen den 92-j?hrigen ehemaligen SS-Wachmann Ernst Tremmel er?ffnet werden - er ist wenige Tage vor Prozessbeginn gestorben.

Wird Reinhold Hanning durchhalten? Die auf zwei Stunden begrenzte Verhandlungsdauer bringt es mit sich, dass sich der Prozess noch bis weit in den Mai hinziehen wird. Immerhin konnte man jetzt beobachten, dass der Angeklagte doch nicht ganz so teilnahmslos ist, wie er sich bisher zeigte. Als das Gericht die Dokumente in Augenschein nahm, die Hannings SS-Laufbahn, seine Verwundung, seine Dienstzeit in Auschwitz und seine Gefangenschaft bei den Briten belegen, da erwachte er aus seiner scheinbaren Lethargie und lie? den Rollstuhl so drehen, dass er die Projektionsfl?che hinter der Richterbank in den Blick nehmen konnte.

Auch die Aussage des Sachverst?ndigen Stefan H?rdler - er hat die Organisation der SS-Totenkopfverb?nde erforscht - verfolgte Hanning sichtlich interessiert. Wieder gab es Fotos zu sehen: Das Mordpersonal von Auschwitz entspannt sich bei geselliger Unterhaltung auf der Solah?tte, einer Art Erholungsheim im waldreichen Gebirge s?dlich von Auschwitz. Da sieht man sie fr?hlich scherzend beisammen stehen: Rudolf H??, den Organisator der Massenvernichtung, Richard Baer, den Kommandanten des Stammlagers, Josef Kramer, den Kommandanten des Vernichtungslagers Birkenau, den m?rderischen Arzt Josef Mengele, Otto Moll, der f?r seine Verdienste bei der Leichenverbrennung mit dem Kriegsverdienstkreuz 1. Klasse mit Schwertern ausgezeichnet wurde. Auf einem Foto haben sich 70 Mann zum Gruppenbild aufgestellt, vorne steht einer, der die Ziehharmonika spielt. Das Bild, erl?utert der Sachverst?ndige H?rdler, datiert vom 11. Juli 1944. Man feiert den erfolgreichen Abschluss der Ungarn-Aktion: 300 000 ungarische Juden, ermordet in der Rekordzeit von knapp zehn Wochen.

Am 29. April, kündigen Reinhold Hannings Verteidiger an, werden sie im Namen ihres Mandanten eine Erkl?rung abgeben. Wird der Angeklagte dann auch Fragen beantworten, will einer der Nebenkl?geranw?lte wissen. "Nein", sagt der Rechtsanwalt Johannes Salmen, "Fragen wird Herr Hanning nicht beantworten."


Dr. Hans Holzhaider
===================
1946 in Miesbach, Oberbayern, geboren. Studium der Amerikanischen Literaturwissenschaft in Berlin und München. Volontariat bei der Heilbronner Stimme. Seit 1978 bei der SZ, zunächst in der Lokalredaktion Dachau, von 1986 bis 1996 in der Bayernredaktion als Redakteur für bayerische Landespolitik, seit 1996 Gerichtsreporter. 1993 Wächterpreis der Tagespresse für die Berichterstattung über die bayerische "Amigo-Affäre".
--------

Justiz nach WKII: alle Beiträge