Kagawa Toyohiko. Sein soziales und politisches Wirken

 

Pfr. Dr. K.-H. Schell, Vorstandsmitglied der DOAM und derzeit Pfr. der deutschen Gemeinde in Peking promovierte 1993 in Heidelberg zu Kagawa:
"Kagawa Toyohiko. Sein soziales und politisches Wirken"..
Mit freundlicher Erlaubnis des Verfassers drucken wir den letzten Teil der Dissertation hier ab.

Dr. Karl-Heinz Schell
Kagawa Toyohiko (1888 - 1960)
Sein Soziales und politisches Wirken

Verlag Iudicium, München 1994
ISBN 3-89129-297-X

Inhalt:

1. Einführung
2. Kagawa Toyohiko
3. Auswertung und Ausblick  S.151-164
     (ohne jap. Zeichen  > hier als pdf)

 

[151]

3.  Auswertung und Ausblick:
Kagawa Toyohiko und die Gegenwart

"Oh Japan! Ewige Liebe ruft dich noch immer! Launenhaftes Japan! Isoliertes Japan! Leg deine Launenhaftigkeit ab und knie nieder vor dem Gott der unendlichen Liebe. In deinem Bemühen, dich von Sünde zu reinigen und deine Seele zu heiligen, führt auch dein Weg nicht am Kreuz vorbei. Christus eröffnete sogar für Japan die Möglichkeit der Errettung. Ja! Auch wenn die ganze weite Welt Japan vergisst; -  Christus, der Offenbarer ewiger Liebe, wird niemals aufhören, um Japan zu werben, bis er gewinnt. Oh Japan! Der du Christus gehörst! Nur er kann dich zu deiner Stunde der Auferstehung bringen. Die Welt mag sich von dir zurückziehen, und alle Menschen mögen sich von dir abwenden, aber Christus wird an deiner Seite sein. Nein! Nein! Christus, der geduldige, dir nachgehende Christus, wird niemals dieses Land aufgeben, das ich liebe."  Diese Worte schrieb Kagawa 1934 im Vorwort zu seinem englisch-sprachigen Buch Christ and Japan, Christus und Japan.

"Christus für Japan", auf diesen Nenner lässt sich Kagawas soziales und politisches Handeln bringen. Nicht mehr so zutreffend wäre jedoch die Umkehrung des Subjekt-Objekt-Verhältnisses in diesem Programm, also "Japan für Christus". Kagawa bringt in obenstehenden Zitat diese Problematik zum Ausdruck: Japan war für die Ideen Kagawas nicht immer so aufgeschlossen wie Kagawa es gerne gewollt hätte. "Christus für Japan", das wollte" Kagawa in einer ganzheitlichen Weise, in der Gestaltung individueller und nationaler christlicher Werte, im Aufbau einer gerechten Gesellschaft, dem "Reich Gottes" im Hier und Jetzt, und in einer anzustrebenden Funktion Japans als Friedensstifter in der Welt. So war Kagawas letzte Bitte, als er im Sterben lag: [] Ich bitte um die Errettung Japans. Ich bitte um die Bewahrung des Friedens in der Welt."

"Christus für Japan" und "Japan für die Welt", das war Kagawas Vision. Allerdings: Das, was Kagawa seinem Heimatland vermittelte, war nicht immer Christus. Sein Versuch einer Indigenisierung des christlichen Glaubens hatte auch, wie dargestellt, Schattenseiten, zu denen besonders Kagawas nationalistische Phase gehörte.

[152] Seit Mitte der 80er Jahre konzentriert sich die Kagawa-Debatte in Japan besonders auf jenes Thema, das im Zusammenhang mit Kagawas diskriminierenden Äußerungen hinsichtlich bevölkerungspolitischer Maßnahmen steht: Kagawas rassistische Haltung gegenüber den traditionell kastenlosen Japanern, den eta [], hinin [] oder burakumin [].

3.1.  5tudien zur Psychologie der Armen [] - Kritik an Kagawa

In einem 1982 verfassten Aufsatz bemerkt der damalige Generalsekretär des Nationalen Christenrates in Japan, Shoji Tsutomu, dass sich die Kirchen in Japan erst seit 1975 bewusst mit dem Thema der Buraku-Minderheit beschäftigten. Dies geschah, nachdem der (säkulare) Buraku-Befreiungsverband [] den Kyodan mehrmals auf diskriminierende Passagen in seinen Publikationen hingewiesen hatte.

Buddhisten hatten 1962 eine Buraku-Aktionsgruppe gegründet. Die Zahl diesbezüglich engagierter religiöser Organisationen erhöhte sich bis 1981 auf 50, die im selben Jahr die Vereinigung religiöser Organisationen zur Bearbeitung der Buraku-Problematik ins Leben riefen. Heute sind in dieser Vereinigung 76 Mitgliedsorganisationen vertreten.

Die Buraku-(Befreiungs)bewegung [] begann mit der Nationalen Emanzipationsgesellschaft [], die sich am 3.3.1922 in Kyoto konstituierte. Dass die religiösen Organisationen Japans erst so spät eigene Initiative entwickelten, liegt daran, dass "Religion in Japan eindeutig die Funktion hatte, eine diskriminierende Haltung gegenüber Minderheiten zu unterstützen und aufrechtzuerhalten." Dies galt auch für die japanische Christenheit, denn ihr anfängliches "Engagement für soziale Belange wich unter dem Druck des absolutistischen Tennosystems allmählich einer inneren Frömmigkeit sowie der Beschäftigung mit geistlichen Fragen und konzentrierte sich einseitig auf die städtische Mittelschicht."

Auch Kagawa bildete an diesem Punkt keine Ausnahme. So sehr er [153] sich von der christlichen Kirche in den in dieser Arbeit diskutierten Bereichen unterschied, so wenig gelang es ihm in der Burakumin-Frage, diese Unterscheidung aufrechtzuerhalten. Seit einigen Jahren gibt es eine starke Kagawa-Kritik, die sich hauptsächlich auf Kagawas Studien zur Psychologie der Armen [Hinmin shinri no kenkyu] bezieht. Hinmin shinri no kenkyu war erstmals 1915 veröffentlicht worden, und sogleich hatte es Proteste gegeben. 1922 wurde das Buch Gegenstand einer öffentlichen Anklagekampagne [] der Suiheisha [ Bewegung zur Abschaffung der Kastenunterschiede], in deren Folge Kagawa der Suiheisha seine Unterstützung entzog. Schon im Vorwort des Buches, das der Soziologe Yoneda Shotaro [ 1873 -1944] verfasst hatte, war Kagawa gebeten wor­den, die im Buch enthaltenen diskriminierenden Aussagen noch einmal zu überdenken. Kagawa versprach dann auch, keine weiteren Auflagen des Werkes zu veröffentlichen. Der Kirisuto Shinbun Verlaq brachte Hinmin shinri no kenkyu dann jedoch nach Kagawas Tod in Band 8 der 1. Auflaqe der Gesammelten Werke 1962 wieder ungekürzt heraus. Dasselbe geschah, trotz Protesten, in der 2. Auflage von 1972. Erst in der 3. Auflaqe von 1981 waren die schlimmsten Stellen gestrichen, was allerdings auf Kosten der Authentizität geschah.

Das in Hinmin shinri no kenkyu (1. Auflage) enthaltene Kapitel 7 (S. 35-46) des 1. Teils (S. 6-66) trägt die Überschrift "Die Armen und die Armenviertel in Japan" [] und beinhaltet den kontroversesten Abschnitt des Buches: "Studien über ein Eta-Dorf" []  S. 43-46. Auf diesen Seiten kommt zum Ausdruck, dass Kagawa unreflektiert der alten japanischen Rassentheorie [] anhänqt:

S. 43: "Es ist sicher, dass die Eta eine besondere Rasse innerhalb der menschlichen Rassen bilden."

S. 44: "Niemand wird bestreiten können, dass sie (die Eta) die kriminelle Rasse des kaiserlichen Japans sind."

S. 44: "Das heißt, sie sind unter den Japanern eine degenerierte Klasse, eine Gattung von Sklaven, ein uraltes Volk, das den Anschluss an die Gegenwart verpasst hat."

[154] Ähnliche Aussagen finden sich noch an zahlreichen anderen Stellen. Kagawa benutzt den Begriff eta zur Bezeichnung der Angehörigen einer der ehemals kastenlosen Gruppen, die in speziellen Dörfern (buraku) lebten, obwohl dieser Begriff seit 1871 offiziell abgeschafft war. Kagawa war sich seiner Haltung offensichtlich überhaupt nicht bewusst; dies beweisen fortgesetzte diskriminierende Äußerungen auch nach der Protestkampagne gegen Hinmin shinri no kenkyu,  bis hin zu seinen Vorschlägen für eine eugenische Geburtenkontrolle um 1950.

Wie kommt es, dass jemand, der sein Leben dem Dienst an den Ausge­stoßenen gewidmet hatte, der mit ihnen auf engstem Raum gewohnt, gegessen und geschlafen hatte, so abschätzig über sie schreiben konnte? -  Kagawa fühlte sich dem theologischen Konzept der "versöhnenden Liebe" verpflichtet, aber als die Suiheisha ihn wegen seiner rassistischen Haltung angriff nicht, um ihn zu verlieren, sondern um ihn neu für ihre Sache zu gewinnen bezeichnete Kagawa diese Vorgehensweise als "Evangelium des Hasses". Es spricht vieles dafür, dass Kagawas Einstellung eine unmittelbare Folge seines Sendungsbewusstseins war. Er wollte die versöhnende Liebe Christi zu den Armen und Ausgestoßenen bringen, übersah aber dabei, dass er selbst Teil eines sozialen und hierarchischen Systems war, in dem er - als Angehöriger einer Samurai-Familie - zum Oben" und gleichzeitig zum "Diskriminierenden" gehörte. Kagawa bekämpfte das Böse in der Gesellschaft und vergaß, dass es sich ja auch in ihm selbst eingenistet hatte.

Sumihi Heiichi weist darauf hin, dass Kagawa der Ansicht war, er müsse, quasi als Akt der Imitatio Christi, die Sünden der Gesellschaft (z. B. die der Slumbewohner) auf sich nehmen. Dadurch "macht er diese Nichtchristen zu Objekten seiner eigenen Bedürfnisse, und das Armenviertel und das Buraku-Problem werden in besonderer Weise zu Objekten."  Diesen Ansatz bezeichnet Sumihi als "Harmonismus" oder "Harmonisierung" (yuwashugi). Hirasawa Mitsuko beschreibt yuwashugi als den Versuch, Versöhnung und Verstehen dadurch herbeizuführen, dass man die Verantwortung für die Beseitigung von Nachteilen den Benachteiligten selbst, die sich eben "bessern" müssten, aufbürde, ohne für die Beseitigung der gesellschaftlichen Unterdrückungsmechanismen zu sorgen.

[155] So fragt schließlich die Buraku-Befreiungsbewegung zu Recht: "Welcher Art ist eine Evangeliumsverkündigung, der eine Missionstheorie zugrundeliegt, die sich die Sicht der Buraku-Befreiung nicht angeeignet hat? Was für ein Evangelium ist dies, das Verzweiflung, Leiden, Hoffnungslosigkeit und Wut hervorrufende Situationen jenen aufzwingt, die bereits Opfer von Diskriminierung sind?"  So entpuppt sich das "Kagawa-Problem" der letzten Jahre als kritische Anfrage an die christliche Kirche in Japan; als Aufforderung, in Theologie und Gemeinde inhärente Diskriminierung zu erkennen und abzuschaffen.

Gleichzeitig ist das Verhalten Kagawas eine Anfrage an jene Missionstheologie, unter der er Christ wurde und der es um schnelle Bekehrungen und zahlenmäßig messbare Missionserfolge ging. Wer sich der "Strategie" erinnert, mit der Dr. Myers den jungen Toyohiko dazu brachte, sich taufen zu lassen, kann darin dasselbe Subjekt-Objekt-Schema wiederentdecken, das Kagawa in seiner Arbeit unbewusst auf andere anwendete.

Diese Erkenntnis ist desillusionierend für die, die dazu neigen, in Kagawa einen "Heiligen", den "Franziskus Shinkawas" oder den "Apostel der Liebe" zu sehen. Aber sie ist gleichzeitig eine befreiende Erkenntnis, denn es sind Kagawas Schwächen, die den Betrachter davor bewahren, ihn auf Grund seiner Stärken zu glorifizieren. Könnte es sein, dass die Verehrung Kagawas im Westen ein ekklesiozentrischer Akt der Selbstbestätigung westlicher Mission (gewesen) ist? Die westliche, insbesondere die U.S.-amerikanische Mission ist tatsächlich aufgerufen, ihre Methodik, Hermeneutik und kulturelle Bedingtheit kritisch zu reflektieren.

Abschließend ist festzustellen, dass weder Dr. Myers noch Kagawa sich ihrer jeweiligen kulturellen und theologischen Haut entledigen konnten. Es wäre deshalb auch unangemessen, der sozialen und politischen Arbeit Kagawas ihre Notwendigkeit und Wertschätzung abzusprechen. Sehr treffend schreibt diesbezüglich Ono Ichiro, Pfarrer der Heian-Gemeinde in Kyoto: "Kagawa hat in meiner Jugendzeit einen gewissen Einfluss auf mich gehabt, und ich bin mir sicher, dass er, wenn er heute am Leben wäre, folgenden Satz sagen würde:  'Wartet einen Augenblick, meine Freunde!  Die diskriminie­rende Einstellung, die ich hatte, war falsch. Bitte Macht das [156] deutlich. Tut Busse und beseitigt ebenfalls die Diskriminierung in der Kirche." Was bleibt, ist also die dringende Forderung nach einer für Kritik offenen und kritikfähigen Kirche, und dies nicht nur in Japan.

3.2.  Die Bedeutung des sozialen und politischen Wirkens Kagawas für die gegenwärtige Kirche in Japan

"Fragt man mich, was ich sei, so antworte ich: Ich bin eine Art Kulturkritiker; ich bin Sozialpädagoge." Welche Auswirkungen hat das Handeln des Kulturkritikers und Sozialpädagogen Kagawa auf die Kirche Japans in der "Post-Kagawa-Ara"?

Eine mögliche Antwort bietet Kawashima Sachio an: "In Japan, wo wegen mangelnder staatlicher Sozialpolitik trotz einer hochentwickelten Industrie schwere soziale Gegensätze wie bei einem Entwicklungsland vorhanden sind, könnten die Christen eine wichtige soziale Aufgabe der Gegenwart in einer Synthese der Organisierung der Sozialhilfe von Wichern und der sozialreformerischen Bewegung von Kagawa finden." Dies ist, es muss betont werden, eine japanische Antwort. Und es sind in erster Linie die japanischen Antworten, die hier Auskunft geben sollen über die Kagawa­Rezeption der vergangenen Jahrzehnte, eine Generation nach seinem Tod.

Kawashima traf die oben zitierte Feststellung im Jahre 1974 und hielt auch noch 11 Jahre später, 1985, daran fest. Wiederum 8 Jahre später dürfte sie an Aktualität eher noch gewonnen haben, da Japan sich z.B. im Bereich der Altenfürsorge vor immer größere Probleme gestellt sieht. In diakonischen Einrichtungen wie z.B. im Ai no Izumi ([] "Quelle der Liebe") in der Stadt Kazo ([] nördlich von Tokyo) oder im Kanita fujin no mura ([] "Kanita-Frauendorf") in der Stadt Tateyama ([] auf der Chiba-Halbinsel, südöstlich von Tokyo)  hat die diakonische Arbeit in der japanischen Kirche Fuß gefasst. Das gleiche gilt für die kirchlichen Arbeiterhäuser in Sanya ([] Tokyo) und Kamagasaki ([] Osaka).

Die Notwendigkeit, sich weiter mit Kagawa zu beschäftigen, konsta [157] tiert auch Ogawa Keiji in seinem 1984 verfassten Aufsatz Kirche auf felsigem Boden mit wenig Erde -Gedanken zu Kagawa Toyohiko ([] Tsuchi no usui ishiji ni tatsu kyokai - Kagawa Toyohiko o megutte).  Kagawa befand sich "allein, über und über mit Wunden bedeckt", im Spannungsfeld zwischen einer real existierenden Kirche, die mittelschichtsspezifisch und intellektualisiert war, und seiner Vision einer Kirche für alle. Für das erfolgreiche Wachstum einer solchen Kirche gab es jedoch "zu wenig Erde"; der japanische Grund, auf dem er sie errichten wollte, war "felsiger Boden". Ogawa bezeichnet dies im ersten Abschnitt seines Aufsatzes als "das Scheitern des Aufbaus einer Kirche mit missionstypischem Charakter." Entsprechend weist Dohi Akio darauf hin, dass sich eine große Zahl von Mitgliedern der Nihon Kirisuto Kyokai [] Kagawa gegenüber "kühl und distanziert verhielt" ([] tsumetai taido o torimashita), und dass Kagawa in der christlichen Kirche in Japan "kein besonders hohes Ansehen genoss" ([] amari takaku hyoka sarete inakatta).

Inoue Yoshio sieht in Kagawa ein Paradigma für eine innere Spaltung der japanischen Kirche; diese Spaltung sei besonders in der innerkirchlichen Diskussion um die Aufstellung eines christlichen Pavillons ([] Kirisutokyokan) auf der Weltausstellung 1970 in Osaka ([] Osaka bankoku hakurankai) offenbar geworden.

Die Weltausstellung in Osaka war die erste Weltausstellung auf asiatischem Boden. Die Idee, einen christlichen Pavillon zu errichten, übernahm die japanische Kirche von der Weltausstellung in Montreal, für die die kanadische Kirche erstmalig ein solches Unternehmen geplant und durchgeführt hatte. Die Gespräche betreffend die Teilnahme an der Ausstellung in Osaka begannen Anfang 1967 innerhalb des National Christian Council in Japan ([] Nihon Kirisutokyo gikai) unter dem damaligen Generalsekretar Yamada Chuzo. Im April desselben Jahres entschied der Osaka Christian Council, an der Expo 70 teilzunehmen; auf Anfrage votierte die Japanische Katholische Bischofskonferenz dafür, den christlichen Pavillon als ökumenischen Pavillon zu [158] konzipieren. Auch die Japan Evangelical Fellowship stimmte dem zu. Später partizipierte noch die Orthodoxe Kirche in Japan. Das Motto des Pavillons wurde im August 1968 festgelegt: "Augen und Hände - Die Entdeckung der Menschlichkeit". Noch im gleichen Jahr formierte sich eine Protestbewegung, die u.a. im Zusammenhang mit den Studentenunruhen der späten 60er Jahre gesehen werden muss, in christlichen Universitäten in Osaka und Kyoto begann, sich nach Tokyo und in andere Regionen ausbreitete und insbesondere in den Gemeinden des Kyodan heftige Kontroversen auslöste. Die Gegner eines christlichen Pavillons befürchteten, dass dieser eher als Unterstützung der bestehenden sozialen und politischen Ordnung in Japan verstanden werden könne denn als beabsichtigte Selbstdarstellung und Wahrnehmung des Verkündigungsauftrages einer geeinten japanischen Christenheit. Am 20.6.1969 veröffentlichte der Zentralausschuss für den christlichen Pavillon eine Stellungnahme zur Beilegung der Streitigkeiten, in der betont wurde, dass die Aufstellung des Pavillons nicht mit einer generellen Bejahung der japanischen Gesellschaft bzw. Gesellschaftsordnung gleichzusetzen sei. Man bestehe jedoch auf einer Ökumenischen christlichen Präsenz bei der Expo '70, um dadurch die "rettende Gegenwart Christi" in der japanischen Gesell­schaft zu bezeugen. Inoue, der im Jahr der Weltausstellung sein Lehramt an der Theologischen Hochschule Tokyo ([] Tokyo shingaku daigaku) niederlegte, versteht die im Kyodan aufgetretenen Kontroversen als das Aufeinanderprallen der beiden vorhandenen Hauptströmungen, deren eine er als die der "Gesellschaftskritischen" ([] shakaiha) und deren andere er als die der "Evangeliumstreuen" ([] fukuinha) oder "Kirchentreuen" ([] kyokaiha) bezeichnet. Während des 2. Weltkriegs wurde dieser Dualismus ([] nigenshugi) zwischen Gesellschaft und Glaube besonders deutlich; die japanischen Christen schlugen sich fast alle auf die Seite eines pietistisch-evangelikalen Glaubens. Das Fatale, so Inoue, sei jedoch, dass diese Aufspaltung christlichen Lebens nicht nur als zwei konträre Gruppen existiere, sondern dass viele japanische Christen beide Positionen verträten. So habe z.B. der bekannte Kyodanpfarrer Akaiwa Sakae ([] 1903 -1966) behauptet, in Bezug auf [159] seinen Glauben sei er Barthianer, was aber seine Einstellung in gesellschaftlichen Fragen betreffe, so sei er Kommunist. Dies sei die typische Haltung eines japanischen Dualisten. Christen und Theologen, die wie Kagawa um ein umfassendes Glaubensverständnis und eine ganzheitliche Weltdeutung gerungen hätten, seien auch heute noch die Ausnahme.

Wenn man bedenkt, dass, laut Aussage von Inoue, auf Grund der bestehenden Streitigkeiten von 1970 bis 1989 keine Synode des Kyodan stattfinden konnte, muss man nach den Ursachen dieser Spaltung fragen. Inoue sieht sie letztlich in der Missionsgeschichte Japans: Die äußere Struktur der japanischen (protestantischen) Christenheit sei U.S.-amerikanisch geprägt, die innere Struktur jedoch durch die vorherrschende Rezeption europäischer, insbesondere deutscher Theologie gekennzeichnet. So lasse sich z. B. die dualistische Haltung auf dem Hintergrund der Zwei-Reiche-Lehre Luthers verstehen. Dieses Interpretationsmodell trifft auf Kagawa ebenfalls zu, allerdings mit Einschränkungen. Seine kirchliche Identität hatte eindeutig U.S. -amerikanische Vorbilder, wie z.B. Myers und Logan als Vertreter eines denominationellen Kirchensystems. Seine theologische Identität gründete jedoch auf U.S.-amerikanischen und europäischen Quellen, wie z.B. in Rauschenbuschs gesellschaftskritischem Social Gospel und im Gedankengut des deutschen Idealismus und Neoprotestantismus.

Der beschriebene Dualismus ist, auf Dauer gesehen, nicht durchzuhalten, weil er auf der äußerst instabilen Voraussetzung ruht, der christliche Glaube lasse sich auf ein quasi "privates" Gottesverhältnis reduzieren, und für die "Welt" seien dann entsprechend "weltliche" Erklärungsmodelle angemessen. Dass das Versagen der japanischen Christenheit in der Zeit des japanischen Faschismus ähnlich dem Versagen der deutschen Christenheit zur Zeit des Nationalsozialismus - doch etwas mit dem christlichen Glauben zu tun hatte, bestätigt das Kriegsschuldbekenntnis des Kyodan aus dem Jahre 1967, hinter dem damals jedoch nur eine Minderheit stand. Heute, so Inoue, befürworte die Mehrheit der japanischen Protestanten, zumindest im Kyodan, das Kriegsschuldbekenntnis.

Auch wenn Kagawa bei dem Versuch, geistliches Leben und sozialpolitisches Engagement nicht als Gegensätze, sondern als die beiden [160] elliptischen Mittelpunkte christlicher Existenz zu begreifen, an den dargestellten Punkten scheiterte, stellt das die Dringlichkeit seines Bestrebens nicht in Frage. Vielmehr fordert Kagawas Ansatz auch heute die japanische Kirche heraus, ihre importierten rnissionsgeschicht1ichen und indigenen kirchlichen Wurzeln ihres Evanqeliums- und Weltverständnisses weiterhin kritisch zu erforschen, um so jeweils zu einer eigenen und der heutigen Situation angemessenen Interpretation zu gelangen.

Dass dies bereits seit zweieinhalb Jahrzehnten geschieht, zeigt die Bandbreite der Aktivitäten des Kyodan sowie des NCCJ und seiner Ausschüsse. Um die Bearbeitung von Themen wie die Gleichberechtigung der Frauen, die Yasukuni-Schrein-Problernatik, die Frage des Tenno-Systerns, die Diskriminierunq von Burakumin, Ainu und Koreanern bemüht man sich genauso wie um die Bewahrung der Schöpfung und die Erhaltung des Friedens, vor allem durch eine Verbesserung des Verhältnisses von Japan zum übrigen Asien. Die Schwerpunkte der Arbeit bestehen zur Zeit darin, die gewichtige friedenspolitische Rolle Japans aufzuzeigen, A1ternativen zur gegenwärtigen Energiepolitik (Ausbau der Versorgung mit Kernenergie, Plutoniurntransporte etc.) zu nenen und immer wieder auf den dem Tenno-Systern irnpliziten Nationalisrnus hinzuweisen.

Von besonderer Brisanz waren die vorn Verfasser rniter1ebten Vorgänge um den Tod (7.1.1989) und die Beisetzung des Showa-Tenno ([]  taiso no rei "Zeremonie der großen Trauer", öffent1ich, am 24.2.1989) und die darauf folqende Krönunq von Kaiser Akihito ([] sokui no rei "Zeremonie der Thronbesteigung", öffent1ich, am 12.11.1990 und [] daijosai "Feier des großen Kostens des ersten Reises", nicht öffent1ich, am 22./23.11.1990).  Der Kirchenvorstand der dem Kyodan angehörenden und angesehenen Shinanomachi-Gerneinde ([] Shinanornachi kyokai) in Tokyo-Shinjuku verfasste nach gründ1ichen Vorüberlegungen eine eigene Stellungnahrne, die ein Beispiel für die positive Entwicklung des Kyodan ist; darüber hinaus ist sie das mutige Bekenntnis einer Gemeinde. Weitere diesbezügliche öffentliche Erklärungen wurden entweder von Einze1personen bzw. Gruppen von Einzelpersonen oder von Kommissionen des Kyodan abgegeben.

Man kann also sagen, dass die japanische Kirche aus den Fehlern der [161] Vergangenheit gelernt und eine sozial und politisch kritische Sensibilität entwickelt hat. In vielen Bereichen geht sie in den Fußspuren Kagawas; in der Diskriminierungsfrage und in der Tenno-Problematik geht sie sogar wesentlich über Kagawa hinaus. Dass sie dies tut, ist allerdings durchaus als im Sinne Kagawas zu werten. Man darf aber nicht übersehen, dass der christliche Widerspruch gegen den Tennoismus gegenwärtig nichts kostet; niemand wird sanktioniert. Sollte Japan in größere innere Schwierigkeiten geraten, wie z.B. durch eine langanhaltende Rezession, könnte dies wieder eine Restauration traditioneller nationaler Werte bewirken; die der christlichen Kirche entgegengebrachte Toleranz könnte dann schnell ein Ende haben.

Es wird deutlich, dass die Situation der gegenwärtigen Kirche in Japan - mit den Hauptthemen: NCCJ, Kyodan, übrige Kirchen und kirchliche Erneuerung - einen eigenen Forschungsbereich darstellt. Die genannten Themen beschreiben den weiten Horizont der Kagawa-Forschung.

Suzuki Masahisa versteht unter dem Versöhnungsauftrag der japanischen Kirche auch das Erstreben eines versöhnten Verhältnisses mit den westlichen Mutterkirchen. Es muss daher abschließend danach gefragt werden, welche Bedeutung das Wirken von Kagawa Toyohiko für die Kirche im Westen haben könnte. Indem die westliche Kirche diese Frage stellt und sich um eine Antwort bemüht, bringt sie ihr Interesse an einem versöhnten, paritätischen Verhältnis mit der japanischen Kirche zum Ausdruck.

3.3.  Kagawa als Aufgabe für die westliche Kirche - Eine Möglichkeit ökumenischen Lernens?

Kagawa Toyohiko als Aufgabe ([] Kadai toshite no Kagawa Toyohiko), so lautet der Titel eines vor 10 Jahren veröffentlichten Aufsatzes des Kagawa-Forschers Kaneko Keiichi ([]. In den Themen "Kagawa als Dichter", "Das Problem seiner diskriminierenden Äußerungen" und "Kagawa als Mensch zwischen zwei Stühlen" sah und sieht Kaneko die vordringlichen Schwerpunkte in der Kagawa-Forschung. [162]

Als "Mensch zwischen zwei Stühlen", so wurde gezeigt, saß Kagawa zwischen einer von ihm gewünschten offenen Kirche und der real existierenden Kirche. Genauso wenig passte Kagawa in irgendeine ein­deutige theologische Richtung. Die japanische Theologie war seines Erachtens nur eine Kanzeltheologie ([] kodan shingaku), die sich um sich selbst drehte, und dies lehnte er ab. Theologie hatte für ihn nur dann einen Sinn, wenn sie in Taten umgesetzt wurde. Wie steht es heute mit den Gegensatzpaaren "Kampf und Kontemplation", "Aktion und Meditation", "Tun und Beten" in unserer westlichen Kirche?

Als die protestantische Mission im Jahre 1859 in Japan begann, konnte niemand voraussehen, dass die westliche Kirche, d.h. insbesondere die um die Wette missionierenden nordamerikanischen Denominationen, mit dem Import ihrer eigenen kirchlichen Strukturen den Samen der Spaltung in die japanische Christenheit pflanzten; den Samen einer Spaltung, unter der die westlichen Kirchen selbst litten. Es war jene Spaltung zwischen· Beten und Tun, die sich in der kirchlichen Trennung von Evangelikalen und Liberalen ausdrückte.

Die in Kagawa zu beobachtenden Prozesse - die Genese seiner Theologie, die Entfaltung seiner sozialen und politischen Unternehmungen und sein letztendlicher Konformismus in Fragen des Nationalbewusstseins und ethnischer Ideologie - sind nicht nur eine Aufgabe für die japanische Kirche. Das Studium dieser genannten Prozesse ist ebenso eine Aufgabe für die westliche Kirche, durch deren Mission Kagawa Christ wurde. So werden sich etwa die der heutigen geeinten Presbyterian Church (USA) angehörenden ehemaligen Southern Presbyterians (Presbyterian Church in the United States, PCUS, gegründet im Jahre 1865) fragen müssen, inwieweit sie in ihrer Missionsarbeit auf die Unvereinbarkeit von Nationalglaube (civil religion) und Rassentrennung (racial discrimination, racial segregation) mit dem Glauben an eine christliche Weltgemeinschaft hingewiesen haben. Dies gilt natürlich auch für alle anderen Missi­onsgesellschaften, die sich quietistisch von der Welt abwandten, als sich die politische Lage in Japan verschärfte.

In Kagawa sieht die westliche Kirche sich selbst. Sie sieht ihre Stärken und ihre Schwächen. Was kann sie von Kagawa lernen? - 

Ogawa Keiji bemerkte schon im Jahre 1965, dass eine solche Fragestellung nicht aus "exotischem Interesse" an der Theologie und den Theologen der Missionsländer erfolgen dürfe: "Wenn die veraltete europäische Theologie von der theologischen Unternehmung in der afroasiatischen jungen Kirche etwas Neues oder gar eine Erneuerung der Theologie oder Kirche erwartet, ist diese Erwartung völlig grundlos. Etwas Neues im theologischen oder kirchlichen Bereich kommt nur von Gott aus." Eine Art theologie- oder ekklesial-touristische Neugier wäre in der Tat eine ungünstige Voraussetzung für das Bemühen um ökumenisches Lernen in der Kagawa-Frage. Nein; wenn die westliche Kirche von Kagawa zu lernen wünscht, dann ist dieser Wunsch im Rahmen "der Einheit der Kirche im interkulturellen Dialog" zu sehen. Ogawas ideelle Priorität, dass "etwas Neues im theologischen oder kirchlichen Bereich ... nur von Gott aus" komme, wird sich realiter im jeweiligen kulturellen und biographischen Kontext nie einheitlich entfalten. Kagawa hatte den Mut, das Wagnis seines, aus einem erfahrungstheologischen Ansatz heraus gelebten Glaubens einzugehen. Nicht alles konnte dabei gelingen, doch war seine Weise, in Japan Christ zu sein, eine Antwort auf die Herausforderung seines spezifischen kulturellen Kontextes; und es war eine ehrliche, dynamische und deutlich vernehmbare Antwort.

Die Kirche im Westen muss sich fragen lassen, inwieweit sie noch ihren eigenen Kontext kennt und mit ihm "ringt"; das "Abendland" ist schon lange nicht mehr "christlich".

Wenn sich kontextuelle Theologie und Kirche der Zweidrittelwelt von westlicher Theologie und Kirche distanzieren, tun sie dies nicht selten mit dem berechtigten Vorwurf, "unsere Denkweise sei illusionär, rationalistisch, provinziell, durch den Reichtum verdorben, mit falschen universalen Ansprüchen und einem Überlegenheitskomplex." Blieb Kagawa, der sich einem als zunehmend imperialistisch-chauvinistisch erlebten Amerika gegenübergestellt sah, überhaupt eine Wahl? War es nicht zwingend, dass er, auf dem Hintergrund seines durch die Militärzensur eingeschränkten Informationsstandes, für Japan Partei ergriff? Wie hätte er sonst seine Eigenart, sein indigenes Christsein bewahren können? Kagawa wusste, dass er sich die Hände würde schmutzig machen müssen. [164]

In ähnlicher Weise wird auch die west1iche Kirche um indigene Antworten auf die Herausforderungen der Gegenwart ringen müssen. Speziell im deutschen Kontext könnten diese Antworten dergestalt aussehen, dass die Vorherrschaft kapitalistischer Ideologie infrage gestellt wird, da sie eine extreme menschliche Verarmung zur Folge hat. Die Kirche in Deutschland wird sich um die Verwirklichung sinngebender und Geborgenheit vermittelnder Gemeinschaft bemühen müssen, wenn sie der wachsenden Orientierungslosigkeit der jungen Generation begegnen will. Dasselbe gilt im Blick auf all jene Menschen, die von dem Gefühl beherrscht werden, ihr Leben nicht bewältigen zu können.

Eine Theologie, die sich ihrem Kontext verpflichtet weiß, wird immer auch parteiische Theologie sein. Sie wird explizit oder implizit Partei ergreifen für Benachteiligte, Leidende und Unterdrückte; oder eben für die Verursacher von Benachteiligung, Leid und Unterdrückung. Aus dieser Erkenntnis ergibt sich die Frage: Für wen ergreift die west1iche Kirche heute Partei? Verkündigt sie das Reich Gottes als seelsorgerliches Evangelium der Rechtfertigung und als Herrschaft sozialer Gerechtigkeit? Oder verhält es sich so, dass sich die Kirche im Westen von ihrer von Nation zu Nation unterschiedlich ausgeprägten "civil religion" hat gefangen nehmen lassen und ihre "Theologie an einer Ethik des Politischen" und an einer Ethik der Wirtschaft nicht betei1igt?

Kagawas Verhalten und auch das veränderte Verhalten der japanischen Kirche nach 1945 kann der Christenheit in der alten westlichen Kirche Mut machen, "ecclesia semper reformanda" zu sein, d.h. die Augen vor den Problemen der Zeit nicht zu verschließen, sondern sich mitten in sie hinein zu begeben, also im Namen des "Zimmermanns und Arbeiters Jesus" zu hei1en und so das Heil des Weltenherrs Christus, das Reich Gottes, mit Wort und Tat zu bezeugen.

(Abgedruckt mit freundlicher Erlaubnis des Verfassers, 2010; alle jap. Zeichen wurden ausgelassen. Sie sind erhalten in der pdf-Datei)