2018: Was Hegel denkt, praktiziert Zen

Die biblische Sündenfallerzählung in der Interpretation Hegels und des Zen
Quelle:  Deutsches Pfarrerblatt - Heft: 3/2018
Mit freundlicher Erlaubnis des Verfassers.

Was Hegel denkt, praktiziert Zen
Von Karlheinz Bartel

Der Philosoph G.W.F. Hegel hat in seiner »Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften« eine Interpretation der jahwistischen Sündenfallgeschichte vorgelegt, die den Menschen auf den Weg der Bewusstwerdung seiner selbst schickt. In vielem berührt sich der darin angestoßene Erkenntnisprozess – wie Karlheinz Bartel darlegt – mit dem buddhistischen Übungsweg des Zen.

G.W.F. Hegel hat in der »Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften«1 eine viel zu wenig beachtete Interpretation des jahwistischen Narrativ vom Sündenfall vorgelegt, das seinesgleichen nicht nur sucht, ­sondern, was mich überrascht hat, mit dem »Erwachen zum wahren Selbst«2 im Zen identisch zu sein scheint. Ich möchte das im Einzelnen zeigen.

Nach Hegel befindet sich der Mensch – These – nicht mehr im Urzustand der Unmittelbarkeit, in der Sprache des Mythos: im Paradies, sondern – Antithese – in der Entzweiung, die ihm »unendlichen Schmerz über sich selbst«3 bringt. Seine Lebensaufgabe ist es, an der Aufhebung dieser Entzweiung, damit des Schmerzes, – Synthese – zu arbeiten. Wenn der Mensch die Entzweiung aufarbeitet, d.h. sich seiner selbst immer bewusster wird, überwindet er den Schmerz, befreit er sich zum Leben. Das Ergebnis seiner Bewusstseinsarbeit ist das »absolute Wissen«4, »die Gewissheit vom Unmittelbaren«5, »der sich als Geist wissende Geist«6.

Zen »lehrt« dasselbe. Nach Auffassung des Zen ist der Mensch a priori Teil des Dharma, d.h. der Wirklichkeit, wie sie ist und in der der Ursache-Wirkungs-Zusammenhang7 gilt. Wie in Hegels Interpretation der jahwistischen Erzählung ist sich der Mensch im Zen dessen aber nicht bewusst, was ihm Leiden verursacht. Indem er mit der Wirklichkeit, wie sie ist, ganz eins wird, findet er zum wahren Selbst. Dieses Einswerden erfordert gänzlich die Überwindung des Ego, das den Menschen in der Entzweiung hält und ihm Leiden verursacht. Zen nimmt für sich in Anspruch, die wahre Lebenspraxis des historischen Buddha weiterzugeben, der gezeigt habe, wie das Leiden zu überwinden sei, welches sich im menschlichen Leben in Armut, im Altern, in Krankheit, Sterben und Tod manifestiere.

Die Gleichheit beider Anschauungen entspricht im Grunde unserer Erwartung, denn die eine Wirklichkeit muss, weil sie sich selbst erhellt, auch aus unterschiedlichen Perspektiven, seien sie östlicher oder west­licher Konvenienz, als eben diese eine Wirklichkeit gesehen und erfahren werden ­können. ....

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Über den Autor
Pfarrer Dr. Karlheinz Bartel, Jahrgang 1951, Studium in Basel, Tübingen und Heidelberg, 1987 Promotion bei Jürgen Moltmann in Tübingen über Gustav Werners Denken und Wirken, 1984-2007 Pfarrer an der Stadtkirche in Stuttgart-Bad Cannstatt, 2007-2016 Leiter des »treffpunkt 50plus« in Stuttgart (Landeskirchliche Sonderpfarr­stelle bei der Evang. Akademie Bad Boll).