Stille Nacht. Eine Koreanerin in Deutschland

Weihnachten in Deutschland. Weihnachten in Korea.
Kostbare Erfahrungen in zwei Kulturen. Die Journalstin JEONG Ok-Hee erzählt.

 

Stille Nacht. Heilige Nacht.
Von Ok-Hee Jeong

Fast alle Berliner, die ich kenne, sind Zugezogene aus ganz Deutschland und aus aller Welt. Wenn die Zugezogenen über die Weihnachtstage Richtung Heimat eilen, legt sich eine seltsame Stille über die beliebten Wohnbezirke in Prenzlauer Berg, Kreuzberg oder Neukölln. Die Parkplätze stehen leer und nur vereinzelt sieht man die warmen Lichter in den Wohnungen der Häuser brennen.

Für mich, die seit meinem achten Lebensjahr in Deutschland wohnt, war Weihnachten nie ein besonderer Tag. In Südkorea hieß Weihnachten Christmas und wir Kinder kannten die Geschichte von dem Weihnachtsmann, der mit weißem Bart und rotbäckig und immer lächelnd unter klarem Sternenhimmel in einem Schlitten gezogen von Rentieren von Haus zu Haus segelt, um den braven amerikanischen beneidenswerten Kindern Geschenkpakte durch den Schornstein zu verteilen.

Hier in Deutschland tat unsere Familie den Deutschen gleich, schließlich war ein geschmückter Weihnachtsbaum hübsch anzusehen und vor allem war es doch eine wunderbare Sitte mit den Weihnachtsgeschenken! Und dazu gab es ein köstliches Festtagsessen mit Jabchae, Hobagjeon, Bulgogi, Kimchi, Reis und der reichlich mit Trockenobst, Zwiebeln und Äpfeln gefüllten Gans nach einem Rezept, das meine Mutter von einer deutschen Arbeitskollegin bekommen hatte - seltsam fremd, aber dennoch lecker.

Verwirrt war ich jedoch darüber, dass in Deutschland der 24. Dezember gar nicht Weihnachten war, wie ich es von Südkorea kannte, sondern Heiligabend hieß und dass Weihnachten nicht nur einen Tag andauert, sondern gleich zwei Tage. Und diese langen Feiertage waren für mich als Kind die langweiligsten Tage überhaupt, denn Weihnachten war zwar für unsere koreanische Familie kein besonderer Tag, aber sehr wohl für die Deutschen. Ein deutsches Familienfest vergleichbar unserem koreanischen Erntedankfest Chuseok, an dem die ganze Verwandtschaft zusammentrifft, um der Ahnen zu gedenken und reichlich zu essen und zu trinken. Weihnachten waren in Deutschland heilige Feiertage, an denen es unhöflich war, die Freunde anzurufen und sich zu verabreden. So blieb mir als Kind nichts anderes übrig als die Zähne zusammenzubeißen und ungeduldig darauf zu warten, dass die öden Weihnachtstage zu Ende gingen und meine Freunde ihre Verwandtschaftsbesuche hinter sich brachten.

Als ich mit meinem ersten deutschen Freund zusammen kam, bekam ich Einblick in die komplizierte Weihnachtszeremonie mancher deutscher Familien. Matthias* Eltern waren seit langen Jahren geschieden. Obwohl sie schon lange getrennt voneinander waren, konnten sie sich nicht ausstehen. Wegen ihrer gemeinsamen Kinder befanden sie sich in einem Waffenstillstand, aber wenn sie notgedrungen an einem Platz zusammenkamen, hörten sie nicht auf, sich gegenseitig zu sticheln. Für Matthias war Weihnachten jedes Mal eine Tortur, denn es hieß, die Weihnachtszeit so zu gestalten, dass Mutter und Vater nicht das Gefühl bekamen, an zweiter Stelle zu stehen. Bekam die Mutter den Zuschlag für den Heiligabend, war der Vater beleidigt. Bekam der Vater den Zuschlag für den Heiligabend, war die Mutter beleidigt. Schließlich war es die Lösung schlechthin für ihn, den Heiligabend mit meiner Familie zu verbringen und am ersten Weihnachtstag zum Brunch zu seiner Mutter und am selben Tag zum Abendessen zu seinem Vater zu fahren. Er war erleichtert, das Problem so erledigt zu wissen und mit meiner Familie einen völlig entspannten Heiligabend zu verbringen. Auch wenn das einzig Weihnachtliche bei uns der Tannenbaum und die Geschenke und die gefüllte Gans zwischen Reis und Kimchi waren.

Jahre später wurde ich Mutter eines Kindes. Aber sein deutscher Vater und ich trennten uns, als er noch ein kleines Kind war. Christoph und ich sind schon seit mehr als zehn Jahren getrennt, aber wir sind miteinander verbunden durch unseren gemeinsamen Sohn. Für immer.

Für mich ist Weihnachten immer noch völlig unwichtig, ich habe keinerlei emotionale Bindung zu diesen Festtagen. Denn ich bin erstens nicht christlich und zweitens durch meine koreanische Familie nicht weihnachtlich konditioniert. Aber ganz anders bei meinem Sohn. Zur Weihnachtszeit gehört es für ihn unabdingbar, dass man die Wohnung mit Tannenzweigen dekoriert, die Adventskerzen anzündet, einen Tannenbaum aufstellt, ihn mit bunten Kugeln, Lametta und Kerzen schmückt und sich gegenseitig beschenkt. Die Weihnachtsbäckerei gehört unbedingt dazu. Es werden Vanillekipferl, Zimtsternen und Kokosmakronen gebacken, Förmchen aus dem Butterteig gestochen, und Mandeln mit Vanille und Zucker gebrannt, so dass die ganze Wohnung nach warmem karamellisiertem Zucker riecht. Noch vor Heiligabend werden Weihnachtspäckchen mit den Weihnachtsplätzchen fertiggemacht, damit sie noch rechtzeitig bei Oma und Opa väterlicherseits, mütterlicherseits und bei seiner Patentante und seinen Patenonkeln ankommen können.

Für Leon gehört zu Weihnachten auch unabdingbar die Familie. Und für ihn bedeutet Familie, Mama und Papa. Auch wenn Leons Papa und ich schon mehr als zehn Jahre voneinander getrennt sind, feiern wir aus diesem Grund jedes Jahr zusammen den Heiligabend. Seit einigen Jahren nach unterschiedlichen Konstellationen und Örtlichkeiten nun als feste Tradition bei Leons Papa in Osnabrück.

Leons Papa ist verantwortlich für das Essen am Heiligabend. Am Vormittag des Heiligabends holt er Wild oder Gans oder Ente vom Markt ab, den ganzen Tag lang brutzelt und kocht er, und bereitet den Nachtisch vor. Tine, seine Lebenspartnerin und ich trinken derweil Sekt und haben uns viel zu erzählen, da wir uns nur selten sehen. Am frühen Abend trudeln dann Christophs und Tines Freunde und meine Freunde ein. Wir genießen das leckere Essen, die vorzüglichen Weine und das Gespräch. Bis auf Leon, der die Bescherung nicht abwarten kann. Nach dem Kaffee fängt dann endlich die Bescherung an. Schrottwichteln gehört natürlich auch dazu. Später in der Nacht kommen andere Freunde dazu, die Heiligabend mit ihrer Familie zusammen verbracht haben, und wir zeigen uns gegenseitig unsere Geschenke, und wir trinken weiter und feiern bei Karaoke ausgelassen unsere ganz eigene Weihnachtsfeier.

Letztes Jahr war ich dann schließlich diejenige, die sich weigerte, Weihnachten zu feiern. Denn ich fühlte mich weihnachtsmüde und wollte dem ganzen Weihnachtstrubel entfliehen, und wünschte mir, alleine mal die Feiertage zu verbringen. So fuhr Leon alleine zu seinem Papa, und sie feierten ohne mich Weihnachten.

Aber ohne dass ich es bemerkt habe, scheine ich völlig konditioniert worden zu sein von all diesen Heiligabenden mit duftenden Weihnachtsbäumen mit Kind und Ex-Freund und Freunden. Das Jahr so ganz ohne richtige Weihnachten mit Kind und Weihnachtsbaum fühlt sich doch etwas seltsam leer an. Irgendwie wie Glühwein ohne Zimt, oder Weihnachten ohne Weihnachtsmarkt, oder Weihnachten ohne Plätzchenduft.

Und zum ersten Mal in meinem Leben bin ich in einer seltsam sentimentalen Vorweihnachtsfreude. Christoph wird wieder am Heiligabend die Weine auswählen, ein wunderbares Weihnachtsmenü zusammenstellen, wir werden Weihnachtslieder wie Stille Nacht, Heilige Nacht hören, Weihnachtswichtel machen, Last Christmas als Karaoke singen und das Ende des Jahrs langsam besinnlich und ausgelassen ausklingeln lassen.
Der Heiligabend mit kostbaren Menschen fühlt sich warm und sentimental an. Es ist ein Abend, an dem bewusst wird, dass man doch nicht ganz alleine in diesem Universum ist. Es ist ein Abend, an dem es mir wieder einmal bewusst wird, dass auch Menschen, die nicht miteinander zusammen oder verheiratet oder blutsverwandt sind, zu einer Familie gehören können.

Weihnachten sind somit besinnliche Feiertage, und in der dunkelsten und längsten Winternächten sind die Kerzenlichterketten in den Weihnachtsmärkten, in den Einkaufsstraßen und auf dem Weihnachtsbaum herzerwärmend, der süße Geruch der gebrannten Mandeln tröstlich und die roten Zuckeräpfel ein frohlockendes Versprechen und die Weihnachtslieder Stille Nacht, Heilige Nacht und Last Christmas ein sentimentaler und wohliger Nachklang im Herzen.
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So fahren auch dieses Jahr Leon und ich wie viele andere zugezogene Berliner auch von Berlin weg, um bei unserer großen Patchwork-Familie zu sein und überlassen weihnachtliches Berlin den Urberlinern und den Touristen aus aller Welt, die ihre Weihnachten in Berlin feiern wollen. Und ich sehe vor meinen Augen Berlin am Heiligabend. Vielleicht wird dieses Jahr wieder Schnee fallen. Es wird ruhig und still sein hier, die Parkplätze verlassen, nur hie und dort vereinzelt warme Lichter aus den Wohnungen zu sehen sein. Vielleicht wird es die gleiche Atmosphäre sein, die man in Erich Kästners „Das Fliegende Klassenzimmer“ zu lesen ist: Am Heiligabend, dessen Nachthimmel klar und still ist, läuft Martin Hand in Hand mit seinen Eltern zum Briefkasten, um ein selbstgemaltes Bild und einen Dankesbrief an Doktor Justus zu schicken, der Martin das Geld für die Fahrt nach Hause geschenkt hat, damit Martins Familie zu Weihnachten zusammen sein kann; damit Menschen, die sich lieb haben, zu Weihnachten zusammen sein können. Und eine Sternschnuppe fällt einsam in der dunklen und stillen Nacht. Und Martin schickt einen Wunsch zum weihnachtlichen Nachthimmel heraus. Es ist ein glücklicher Heiligabend. Denn es ist eine heilige Nacht. Denn es ist eine stille Nacht.

*Die Namen in der Geschichte sind verändert.