03. Juli 2012
Sonntag. 1. Juli
Wir wollen heute zum Friedhof der Eltern von Kiyoko gehen, nach Nakaminato. Der Naka-Fluß mündet hier ins Meer und bildet einen Hafen, einen Minato. Vor etwa 20 Jahren wurde diese Stadt von damals über 30.000 Einwohner in die größere Einheit, Hitachinaka, eingemeindet. Seither hat sich auch der Hafen verändert. Nördlich von Nakaminato in Hitachi und südlich in Kashima wurden zwei große mneue Häfen gebaut. Für die Großindustrie. Nakaminato blieb der Fischereihafen, zu dem die Menschen in Scharen strömten und nicht nur am Wochenende. Hier gab es den weit und breit besten Fisch. Die Fahrt von Tokyo lohnte sich: fast 2 Stunden mit der Bahn und mit dem Auto noch mehr, weil die Autobahn nur mit 120 km pro Stunde befahren werden darf.
Nakaminato war auch der Heimathafen des Schwiegervaters Sakurai Seikichi, der sein Schiff mit 50 Mann Besatzung durch die Jahre nach dem Pazifischen Krieg führte. Nachdem er und sein ältester Sohn mit dem Fischen aufhörten, wurde bald auch der Hafen größer ausgebaut, damit noch mehr Käufer die immer wachsende Fischmenge bestaunen und kaufen konnten. Auch wir staunten, was da alles möglich war: neue Anlegeplätze, Vergrößerung des Hafenbeckens, neue Lagerhallen, und riesige Parkplätze. Mit der Idylle war es vorbei, dafür wuchs der Wohlstand in ieser Kleinstadt mit drei Gymnasien, 4 Friedhofen, einer kleinen christlichen Kirche und vielen großen und kleinen Schreinen und Tempeln.
Zuerst aber besuchen wir den jüngsten Bruder von Kiyoko, Shiromi. Er lebt im elterlichen Haus zusammen mit seinen beiden Töchtern und der kleinen 6jährigen Enkelin Haruna. Seine Frau Akemi verstarb nach jahrelanger schwerer Krankheit mit 64 Jahren im vergangenen Februar. Es war das erste Mal, dass eine größere Gruppe (wir waren 6 Personen) ins Haus kam - und es hat ihm gut getan. Wir werden still vor dem kleinen Ahnenschrein, wir erinnern uns an gute und schlechte Tage, wir freuen uns an unserer Begegnung. Am späteren Nachmittag soll es dann doch zm Friedhof gehen - aber nicht, ohne der älteren Scjhwster von Kiyoko und ihrem Mann einen kurzen Besuch abzustatten. Sie haben sich vor vielen Jahren (Anfang der 60er Jahre) ein kleines Häuslein gebaut, hoch oben über dem Küstenstreifen. Steil steigt die Gasse bergan, die Autos fahren im ersten Gang. Weit über 20 m hoch erhebt sich hier das Gelände. Wäre die Tsunami am 11.März 2011 hier angelandet, wäre auch ihr Haus weggeschwemmt, das des Bruders 20m tiefer ebenso und mit ihm ein beträchtlicher Teil der Stadt. So aber kam die Welle nur bis an die Haustüre. Was spielt es da schon eine Rolle, wenn die Schränke umfielen, das Geschirr zerbrach, viele Dächer gelöchert und auch manches Haus unbewohnbar wurde. Warum die Welle im Iwate-ken ihre größte Macht ausspielte und nicht hier - wir werden es nie erfahren. Das Häuslein "oben" war unser Feriendomizil in unsern Tokyojahren, 1975-1984. Ein paar Risse hat es abbekommen, der linke Pfosten am Eingang hat seinen Kopf verloren, und die Glasscheibe am Küchenfenstern, die sich beim Erdbeben voll durchgebogen und für Sekunden die Gestalt eines flachen Hutes angenommen hat, ist wieder in Ordnung. Die Schwester hatte dieses Unmögliche bei der Flucht aus dem Haus gerade noch wahrgenommen und kann es bis heute nicht fassen.
Sie erzählt uns davon, wie gut sie beide es hatten, dass die jüngste Schwester und deren Mann sie abgeholt und bei sich untergebracht haben. Wenn das Wasser fehlt, und der Strom nicht fließt, funktioniert das Leben nur bedingt: kein Bad und kein Waschen sind möglich, die moderne Toilette funktioniert nicht un d auch nicht der Kühlschrank, es gibt nichts zu kaufen und für Vorrat hatte niemand gesorgt. Von hier oben überschaut man den tiefer gelegenen Teil der Stadt und versucht sich vorsustellen, wie das aussähe, wenn die hohe Welle in diesen Hafen eingelaufen wäre. Die Bilder aus dem Miyagi-ken und Iwate-ken lassen erschauern. Und der Blick geht der Küste entlang nach Süden, wo dann die kleine, berühmte Badestadt Oarai liegt, gerade hinter einer kleinen Bergnase verborgen. Dort hat die Welle gewütet. Aber das ist eine andere Geschichte. Und zum Friedhof kommen heute nicht. Schon beginnt die Dämmerung - sehr früh hier. Um 19 Uhr ist es bereits Nacht.
Tokai hat lt. Wikipedia etwa 38.000 Einwohner. "In Tōkai stehen das Kernkraftwerk Tōkai sowie die nationale Wiederaufarbeitungsanlage für abgebrannte Brennelemente aus Kernkraftwerken. Sie bildet zusammen mit weiteren Anlagen und Instituten einen großen kerntechnischen Komplex. Mit dem Bau der Wiederaufarbeitungsanlage, die für einen Jahresdurchsatz von 210 t ausgelegt ist, wurde 1971 begonnen. Im September 1977 begann der heiße Versuchsbetrieb, im Januar 1981 erfolgte die volle Inbetriebnahme. Schon frühzeitig war geplant, die in Tōkai gewonnenen Erfahrungen für die Errichtung und den Betrieb einer kommerziellen Anlage zu nutzen. Diese ist derzeit in Rokkasho im Bau. Die Anlage in Tōkai soll künftig in verstärktem Maße Forschungs- und Entwicklungsaufgaben übernehmen.
Am 30. September 1999 kam es zu einem folgenschweren Unfall. Beim Befüllen eines Salpetersäure-Tanks mit ca. 16 kg hoch angereichertem Uranoxid wurde die Kritikalität überschritten und es kam zu einer nuklearen Kettenreaktion. Mindestens 150 Menschen wurden starker Radioaktivität ausgesetzt, darunter 81 Arbeiter, die die Kettenreaktion stoppen wollten; zwei von ihnen starben an den Folgen der Strahlungsdosis. Mehrere hundert Anwohner wurden kontaminiert. Auf der Internationalen Bewertungsskala für nukleare Ereignisse wird der Unfall auf der Stufe 4 eingeordnet." (Wikipedia)
Ein Bericht in ZEIT ONLINE spricht von einem "schwersten Nuklearunfall" Japans im Jahre 1997. Die Wiederaufarbeitungsanlage für nukleare Brennstoffe in Tokaimura war betroffen.
http://www.zeit.de/1997/13/Das_Fanal_von_Tokaimura
"In dem kleinen Küstenstädtchen Tokaimura nördlich von Tokio steht ein eisernes Schild vor dem Rathaus. Es trägt die Aufschrift: "Alle Atomwaffen vernichten und die friedliche Nutzung der Atomenergie fördern". Die Formel kennt in Japan jeder. Sie benennt den Atomkonsens des Landes, und der ist nun in Gefahr." Das war 1997.
Im Stern (Nr. 13/97) wird berichtet, dass "Beim Strahlenbefall in der japanischen Wiedeaufabeitungsanlage ... mindestens 37 Menschen kontaminiert" wurden. Damals schon sagte ein Politiker: "Die Menschen sind voller Wut über die Lügen und Verschleierungsversuche der Regierung." (Lokalpolitiker Takatoshi Yamazaki). Schon 1997!
http://www.castor.de/presse/sonst/1998/tokaimura.html.
http://www.world-nuclear.org/info/inf37.html
Dann kam das Jahr 1999. Am 30. September 1999: "Unkontrollierte Kettenreaktion im japanischen Brennelementewerk Tokaimura. Mindestens 52 Menschen werden erhöhte Strahlung ausgesetzt." (http://www.ippnw-hamburg.de/tokaimu1.htm)
Die Japan Times (20.11.1999) berichtet: "Tokai mayor blames Tokyo for 'nuclear safety myth'". Der Bürgermeister hieß damals schon MURAKAMI Tatsuya. Einzelheiten zu diesem größten Unfall in Japan sind nachzulesen in einem Ausatz "Criticality accident at Tokai nuclear fuel plant": http://www.world-nuclear.org/info/inf37.html
http://www.wise-uranium.org/eftokc.html
Um es kurz zu machen: alle Geschwister von Kiyoko whnen mit ihren Familien im Umkreis von 6-10 km von der Wiederaufbearbeitungsanlage in Tokai. Sie waren nur sehr gering betroffen. Damals starben aber 2 Menschen. Und nun kam der 11. März (3.11) 2011. Die Japan Times am 8.4.2011: "In Tokai, which hosts a number of nuclear research institutes, a criticality accident occurred at a nuclear fuel processing plant run by JCO Co. that claimed the lives of two people. In the September 1999 accident, more than 600 people were exposed to radioactive materials.
Murakami said the government and Tepco were slow to respond to the trouble at the Fukushima plant because they had believed it would not experience such an accident.
They were overconfident in their technologies and ended up responding only after problems occurred, he said.
"Nuclear power is a monster. They were caught off guard, saying nuclear power is safe," he said.
Murakami said nuclear facilities cast a very large shadow for host local governments, which come to rely on them for finances and employment.
He said the central government, utilities and host municipalities have all erred in becoming mutually dependent on nuclear power without thinking about the danger.
Looking back on JCO's accident, which hit sales of Tokai's farm produce through rumors, Murakami said Fukushima produce now is actually contaminated."
Den Herrn Murakami wollen wir um enen Gesprächstermin bitten. Sei Sekretär empfängt uns und will unser Anliegen seinem viiel beschäftigten Bürgermeister vortragen. Wir warten auf seine Antwort.