12. August 2012

Montag, 13. August

Ein Sonntag in Seoul (12.08.2012)

Vor drei Tagen erreichte mich die Anfrage, ob ich im Gottesdienst der koreanisch-chinesischen Gemeinde am 12.8 predigen würde. Ich sagte umgehend zu. Dann kam keine weitere Nachricht. Auch nicht am Samstag. Ich hatte schon diesen Plan aufgegeben, ja den Gottesdienstbesuch überhaupt aufgegeben, weil ich keine Ahnung hatte, wie ich zur Kirche kommen könnte: Ohne Namen, ohne Adresse... Die Telefonnummern der mir bekannten Personen in dieser Kirche waren den ganzen Samstag stumm geblieben, abgeschaltet gewesen. In der Nacht zum Sonntag aber, bereits nach Mitternacht, meldet sich eine Email: der zuständige Pfarrer bitte mich um ein Grußwort. Also Predigt beiseite und Grußwort überlegt. Gottesdienst beginne um 11 Uhr. Ich würde an der U-Bahn-Station abgeholt. Per Email sage ich zu. Ich schlafe weiter gut. Um 9:30 ein Anruf aus der Gemeinde: Ob ich denn wirklich komme? „Natürlich". Dann würde ich am U-Bahnhof abgeholt, Ausgang No.1. Kurz nach 10:30 treffe ich am Bahnhof ein, Herr CHOI holt mich am Bahnsteig ab und fährt mit mir zur Kirche.

Kirche, da steht nur ein Haus mit 6 Stockwerken. Dicht zwischen andern Hochhäusern. Direkt davor eine dieser hässlichen Fußgängerbrücken, die die Sicht versperren. Und nun regnet es auch noch. Nur schnell vom Parkhaus zur Kirche. Im 5. Stockwerk. Ein großer Saal mit einem Podium als Altarbereich. Natürlich kein Altar, sondern nur die Kanzel, links vor dem Podium ein Piano, davor ein kleines Blasorchester. Gegenüber in vier langen Reihen der Chor. Ich werde ins Büro der Gemeinde gebeten, auf dem Tisch steht ein Teller mit Wassermelonenstücken, lecker. Im engen Raum bewegen sich 7-8 Personen, letzte Vorbereitungen für den Gottesdienst, gegenseitiges Vorstellen, kennenlernen, Austauschen von Grüßen. Dann plötzlich Aufbruch. Der Saal ist gestopft voll. Unsere Plätze wurden frei gehalten. Vor uns sitzen 20 Leute aus Sri Lanka. Die Gruppe besucht Korea, nimmt am koreanisch-chinesischen Gottesdienst teil, einer von ihnen, ein Arzt, der bereits über 15 Jahre in Seoul lebt und arbeitet wird den Gottesdienst für seine Landsleute übersetzen.

In der vergangenen Woche starb Pfr. KM Hae-Sungs Vater mit 87 Jahren. Heute ist seine Mutter im Gottesdienst. Pfr. KIM und ich kennen uns seit wir uns in den 80er Jahren in der Jumin-Gemeinde kennen lernten. Er war damals Mitarbeiter des alten Freundes Pfr. LEE Hae Hak und hatte gerade einen eigenen Ableger gegründet. Damals schon hat er sich eingehend um die Migranten gekümmert, deren Zahl ständig im Wachsen begriffen war, denen aber keine (Menschen- bzw. Bürger-) Rechte zugestanden wurden. Er hat uns damals in Weingarten/Baden mit einer Gruppe der Jumin-Gemeinde besucht und erzählt, was ihn dazu veranlasste, sich um diese Arbeitsmigranten aus den angrenzenden asiatischen Ländern zu kümmern. In den Weingartener Presse gab es damals eine kurze, aber heftige Auseinandersetzung über Sinn und Unsinn von Hilfen für Migranten, über Grenzen von Menschenrechten und Aufgaben einer evangelischen Kirchengemeinde in Deutschland. Er fühlte sich damals wie zu Hause in Korea, wo diese Auseinandersetzung damals allerdings etwas heftiger ausfiel. Heute begrüßt er Migranten aus den Philippinen, aus Bangladesch, aus Sri Lanka, aus China, und er begrüßt auch den Deutschen als seinen alten Freund.

Nach Eingangslied (begleitet von Trompeten, Klarinette, Geige und Klavier) und Gebet folgen das Glaubensbekenntnis und Psalm 25, von allen mitgelesen, wie es auf die Wand projiziert wurde. Wohl an die 500 Personen sprechen laut und engagiert – man spürt das Feuer in den Herzen. Es folgt das freie Gebet einer Diakonin, Mitarbeiterin in der Gemeinde. Dann wird der Predigttext verlesen, auf Koreanisch und Tamil: Joh. 3,16 „Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben hat." „Let's Get Eternal Life" ist dann das Thema der Predigt. Ich verstehe nichts, höre aber, dass der Prediger von der Olympiade spricht und dass die koreanische Fußballmannschaft die Japaner besiegt habe – worüber sich derzeit alle Koreaner freuten, der Gast aus Deutschland aber sicher nicht, denn seine Frau komme aus Japan. Dann spricht er irgendwann vom Tod seines Vaters, von seiner Familiengeschichte und stimmt das Lied „Du großer Gott, wenn ich die Welt betrachte..." an. Die ganze große Gemeinde zieht mit, fühlt sich als eine Familie. Befremdlich ist nichts.

Eine kleine Gruppe zeigt einen liturgischen Tanz zu einem mir unbekannten koreanischen Lied. Sechs Frauen begeistern die Gottesdienstteilnehmer. Den Tanz kann jeder interpretieren wie er will. Die Freude am Leben jedenfalls steckt an. Gebet und Vaterunser folgen. Dann Grußworte, zuerst der Gast aus Deutschland, der davon spricht, dass Christensein bedeute, dem Andern, besonders dem in Not, zu helfen. Und dass er das in Fukushima in Japan gesehen habe (wo auch heute noch viele Koreaner leben) und auf Chejudo, wo ein ganzes Dorf darunter leide, dass die Regierung einen neuen Kriegshafen baue, wo es doch um Frieden und nicht um Krieg, um Gespräche und nicht um Gewalt gehen könne. Der Gast darf dann auch gleich den Segen zum Beschluss des Gottesdienstes auf Deutsch sprechen.

Der Gottesdienst ist aber damit noch nicht zu Ende, obwohl längst 90 Minuten verstrichen sind. Jetzt müssen alle Gäste aus Sri Lanka (die keine Christen sind) auf die Bühne, dürfen ihre Grußworte sagen und – eine Überraschung – sie gratulieren Pfr. KIM, der aber erst am 24. Geburtstag hat. Dann jedoch sind alle wieder in ihrer Heimat. Also wird jetzt im Gottesdienst gefeiert. Eine Geburtstagstorte war vorbereitet worden, Kerzen sind aufgesteckt, werden angezündet, aufs Podium gebracht. Pfr. KIM steht nun zwischen den Gästen, neben ihm seine Mutter, und alle andern Gäste werden ebenfalls auf die Bühne geholt. Dann müssen KIM und seine Mutter den Kuchen anschneiden. Und plötzlich wird die Freude überschwänglich. Auf der Bühne, besetzt mit den Gästen aus dem Ausland, dem Chor und den Musikanten wird zu den Liedern getanzt, die Freude spricht aus allen Gesichtern, ein Stück Leben wird sichtbar, wie es das nur im Frieden geben kann. Die Pfarrerin LEE Sun Hee hat Mühe, dieser Freude ein Grenze zu setzen: das Mittagessen für alle steht vier Stockwerke tiefer bereit. An Werktagen werden hier 200 Migranten verköstigt, drei Mal am Tag. An Tagen wie heute, also an den Sonntagen, sind oft 500 und mehr Gäste am Tisch.

Nach dem gemeinsamen Essen soll ich eigentlich die neue „alternative" Schule des Vereins „Global Sarang" besuchen, aber heute sind keine Kinder da. Diese Schule ist für Kinder von Migranten neu eingerichtet worden, Kinder, die von einem Elternteil verlassen worden sind, Kinder, die kein Koreanisch können. 68 Kinder gehen dort derzeit zur Schule, werden von 13 Lehrern unterrichtet. Dazu noch eine Kinderkrippe mit 35 Kindern und 6 Erziehern. Weder Stadt noch Staat helfen, die Stiftung bzw. der Verein „Global Sarang" richtet alles selber aus. Der Besuch in der Schule wird auf die nächste Reise verschoben.

Bei strömendem Regen geht es kurz zurück ins Hotel. Ich werde gefahren. Ich muss mich umziehen für einen weiteren Termin mit OH Jae Shik und seiner Frau. Er will das für Montag vorgesehene Interview der PSPD vorbereiten. Wir treffen uns im Koreana-Hotel. Es ist inzwischen richtig kühl geworden: um die 20° Celsius (in Heidelberg sagt mein Laptop seien es 10°, in Qingdao 32°). Wir suchen einen Coffee-shop in der Nähe und landen im Café WIEN, wo es sogar kleine Kuchen gibt. Es stoßen noch zwei junge Coordinators von PSPD dazu, die das Interview bereits vorbereitet haben. Es soll darin um die 70er Jahre in Korea gehen, um Kwangju im Jahre 1980, um das Korea von heute mit seinen Problemen und Krisen, um die Vereinigung und warum ich gerade jetzt nach Chejudo gefahren bin.

Die Kinder der OHs sind in drei Ländern verteilt: die älteste Tochter lebt in den USA, die zweite in Korea und der Sohn arbeitet in Japan. Unsere Kinder haben sich gelegentlich in Tokyo getroffen. OH Jae Shik, wir sind im gleichen Monat geboren, ist todkrank. Davon spüre ich wenig, ich weiß es, weil er es mir geschrieben hat. 12 Mal muss er Infusionen (?) von je 72 Stunden über sich ergehen lassen, 7 Monate hat das gedauert. Eine OP ist nicht möglich. 10 kg hat er in den letzten Wochen abgenommen. Dennoch ist er ganz bei seiner Sache: Den störenden Kräften der Demokratie und der Vereinigung beider Korea entgegentreten. Wir vergleichen unser beider Biographien, entdecken ganz neu das Leben des andern, und wissen, dass wir da angekommen sind, wo man zurückschauen und Bilanz ziehen kann. Aber wir werden beide mehr bewegt und motiviert von der Gegenwart und der Zukunft. Nach einem guten koreanischen Abendessen trennen wir uns. Am Montag findet das Interview statt.