1968: Klausurtagung - Strukturen der dt. Missionsgesellschaften

Professor D. H.-W. Gensichen

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I.
So gewiß das 19. Jahrhundert die große Zeit der protestantischen Missionsgesellschaften gewesen ist, so gewiß hat dieses Jahrhundert die spezifische Verbindung des Vereins- oder Sozietätsgedankens mit der Idee der weltweiten Evangeliumsverbreitung nicht erst hervorgebracht. Die Linie der historischen Kontinuität führt zunächst ohne Bruch zurück zu den beiden bedeutenden englischen Gesellschaftsgründungen von 1701 (Society for the Propagation of the Gospel in Foreign Parts) und 1698/99 (Society for the Propagation of Christian Knowledge), die, wenngleich in Zielsetzung und Struktur voneinander verschieden, jene Verbindung erstmals in die Praxis umsetzen (1). Charakteristischer noch ist das Modell der Missionsgesellschaft, wie es schon vierzig Jahre früher von dem österreichischen Freiherrn Justinian von Welz entwickelt wurde. Die Mehrzahl der Theologen und Reichsstände, die Welz für sein Projekt zu gewinnen suchte, versagten sich allerdings seinem Drängen. Welz endete enttäuscht beim mystischen Spiritualismus eines Gichtel und Breckling, ohne daß er seine Pläne hätte verwirklichen können, auch ohne daß ihnen eine irgend erkennbare historische Nachwirkung beschieden gewesen wäre. Gleichwohl haben sie exemplarische Bedeutung, sofern schon in ihnen die Spannung angelegt ist, die den späteren Gang der Dinge bestimmen sollte: Welz wollte die Mission als Werk der Kirche verstanden wissen, wurde aber durch die im Territorialprinzip und im Amtsverständnis der Orthodoxie begründete Missionsunwilligkeit des kirchlichen Systems zur Organisationsform der Sozietät gedrängt. So entstand ein Gefälle, das, durch den Pietismus und seine Missionswerke verstärkt, die eigentliche "Gründerzeit" der Missionsgesellschaften um 1800 beherrschte. Die Mission galt, wie man es im frühen 19. Jahrhundert gern ausdrückte, als "christliche Privatsache" , die weniger in der ecclesia als vielmehr in der ecclesiola der Erweckten ihre Heimat haben müsse, oder, in den Worten von Christian Gottlieb Blumhardt, einem der Väter der Basler Mission: "Wir wünschen nicht, daß die Missionsgesellschaft sich in eine öffentliche Kirchensache verwandle. Das milde und unkirchliche Gewand eines stillen Lebens steht ihr besser" (2). Es sollte sich freilich bald erweisen, daß dieser Grundsatz sich nicht so rein durchführen ließ, wie man es sich in den Kreisen der Erweckung erhoffte. Die Entwicklungsgeschichte der Missionsgesellschaft im 19. Jahrhundert zeigt, daß dieser Strukturtypus eine Fülle von Varianten auszubilden vermochte, die jeweils dem allgemeinen Zeitgeist, den gesellschaftlichen Verhältnissen, der Wandlung des kirchlichen und konfessionellen Bewußtseins und der regionalen Differenzierung ihre Sondergestalt verdankten, und die gelegentlich sogar den neupietistischen Ansatz in aller Form in Frage stellen.

II.
Das erste Drittel des 19. Jahrhunderts steht ganz im Zeichen jenes Gesellschaftstypus, für den die 1795 gegründete "Missionary Society", später "London Missionary Society" (LMS) genannt, beispielhafte Bedeutung bekam, einerseits, weil diese Gesellschaft durch Hilfsvereine weit über die britischen Grenzen hinausgriff, andererseits, weil hier alle Missionsmotive der Erweckung zu gesammelter Wirkung kamen, darunter nicht zuletzt auch die Indifferenz gegenüber konfessionellen Unterschieden. Im deutschen Sprachbereich waren es vor allem die Missionsgesellschaften von Basel (1815), Berlin (1824), Barmen (1828), Hamburg (1836, später Bremen), die auf diese oder jene Weise dem von der LMS repräsentierten Modell verpflichtet waren. Stellt man in Rechnung, daß es dabei durchaus beachtliche regionale Akzentunterschiede gab, etwa zwischen der Erweckung am Niederrhein und dem württembergischen Neupietismus, daß außerdem schon seit dem frühen 18. Jahrhundert die dänisch-hallesche Mission und die Brüdermission vor allem von deutschen Kreisen kontinuierlich getragen wurden, so zeigt gleichwohl die missionarische Erweckung um 1800 spezifische Konturen, die sie zu einer Sache sui generis machen.

Bemerkenswert ist zunächst die Übereinstimmung mit allgemeinen geistigen und gesellschaftlichen Tendenzen der Epoche. Es waren faktisch, noch vor der Gründung anderer Vereine, gerade die Missionsvereine und -gesellschaften, in denen alle, die in der überkommenen, ständisch-hierarchischen Gesellschaft nur am Rande figurierten, in freiwilligem Zusammenschluß eine eigene Initiative entfalten konnten, nicht zuletzt auch die "Frauenzimmer", die noch für Kant der bürgerlichen Persönlichkeit entbehrten (3). Hier fanden sie die Gemeinschaft von Gleichgesinnten, in der ihr Beitrag respektiert und genutzt wurde. Mochten die Gesellschaften in der Regel auch eher patriarchalisch als demokratisch geordnet sein, so hatten doch alle Mitglieder prinzipiell gleiche Rechte und Pflichten, und die Leitung war auf diese oder jene Weise der Kontrolle der Mitglieder unterworfen. Hier schließlich gab es eine Bruderschaft, die vor allem von Laien, den "ungelehrten Bekehrten", getragen wurde. Waren noch in der alten dänisch-halleschen Mission fast ausschließlich ausgebildete und ordinierte Theologen ausgesandt worden, so galten jetzt für die Objekte und die Subjekte der Mission, die Gesandten und die Sendenden, andere Qualifikationen: man suchte Leute "mit einem guten natürlichen Verstand, wohlbelesen in der Bibel, voll Glaubens und des Heiligen Geistes (4). Gewiß hätten sich die Gründer und Träger der Missionsgesellschaften dagegen gewehrt, mit den Protagonisten der Französischen Revolution in Zusammenhang gebracht zu werdenj daß hier wie in der Erweckung überhaupt gleichwohl eine hintergründige Verbindung vorhanden war, ist für die rückblickende Beobachtung kaum zu bestreiten.

Als zweites Charakteristikum ist das reservierte, um nicht zu sagen ge­brochene Verhältnis zur institutionellen Kirche zu nennen. Die Erfahrungen, die Welz und nach ihm die Pietisten gemacht hatten, wirken nach und verdichten sich zu einem apostolischen Selbstbewußtsein, das in manchmal erstaunlich naiver Weise die Missionsgesellschaften mit der wahren Kirche identifiziert. Im Calwer Missionsblatt von 1841 heißt es: "Wenn eine Kirche nicht mehr rein apostolisch, wenn sie gemischt ist, aus Gläubigen und Ungläubigen zusammengesetzt, so kann das Missionswerk, welches doch vernünftigerweise nur die Fortpflanzung einer reinen Kirche zum Zweck haben kann, nur durch freie Vereine betrieben werden, welche sich aus den gläubigen Mitgliedern der Kirche bilden" (5). In diesem Rahmen konnten freilich verschiedene Variationsmöglichkeiten erprobt werden. Die charismatische Ein­Mann-Mission eines J. E. Gossner war eine ultima ratio, die sich ebensowenig durchsetzte wie die gelegentlich erkennbaren Ansätze zum Ausweichen in die separatistische Freikirche. Bei der "Obrigkeitskirche" , die jegliches Vereinswesen mit Mißtrauen beobachtete, konnte man zwar kaum auf Verständnis hoffen. Indessen kam es auch nicht zu dauernder und offener Opposition. Man brauchte ja die Glieder der Kirche, wollte auch zur Erweckung und Reinigung der gesamten Kirche beitragen, mußte schließlich aus taktischen Gründen sich mit den staatskirchlichen Behörden nach Möglichkeit arrangieren und war es zufrieden, wenn den Gesellschaften ein Mindestmaß von Bewegungsfreiheit zugestanden wurde. Die innere Widersprüchlichkeit dieser Haltung mußte sich spätestens dann zeigen, wenn die Frage der kirchlichen Autorität in den Missionsgebieten selbst akut wurde. So sah sich Anfang der vierziger Jahre die Norddeutsche Missionsgesellschaft dazu gedrängt, für die unter Heiden gesammelten Gemeinden sich selbst kirchenregimentliche Befugnisse zuzusprechen, die allerdings auf Fragen des Bekenntnisstandes nicht angewendet werden sollten.

Als die größten deutschen Gesellschaften dieses ersten Typs 1837 darangingen, ihre Front fester zu schließen, geschah dies bereits in kritischer Distanzierung gegenüber einer Gestalt der Missionsgesellschaft, die - ohne die Vereinsstruktur der Mission aufzugeben - an eben jenem neuralgischen Punkt einsetzte und ein sinnvoller geordnetes Verhältnis zur Kirche anstrebte. Noch einmal bekräftigten die Gesellschaften der älteren Tradition den neu­pietistischen Standpunkt: "Die genannten Gesellschaften betrachten ihr Werk als christliche Privatsache und als heilige Aufgabe aller Freunde des Evangeliums, und wie sehr sie sich auch, als treue Glieder der evangelisch-protestantischen Kirche, für verpflichtet halten, die geistliche Wohlfahrt derselben vermittels der evangelischen Missionstätigkeit auf jegliche Weise zu fördern, und sich freuen, die begünstigende Teilnahme von seiten bestehender öffentlicher Kirchenbehörden als wünschenswertes Förderungsmittel dankbar entgegenzunehmen, so halten sie es dennoch für ihre Pflicht, dem inneren Organismus und der selbständigen Leitung und Verwaltung ihres betreffenden Werkes den heilsamen Charakter christlicher Privatwirksamkeit zu bewahren, und jeden anderweitigen leitenden Einfluß ... von demselben abzuhalten" (6). Aber auch mit diesen Sätzen war das Vordringen des neuen kirchlichen Missionstypus nicht mehr aufzuhalten.

III.
Es ist wichtig, sich bei dieser Wendung der Dinge nochmals die Bedeutung des britischen Beispiels zu vergegenwärtigen. In England war bereits 1799 eine Missionsgesellschaft gegründet worden, die sich ausdrücklich als Missionsorgan der kirchlichen Erweckung verstand, sich daher bald den Namen "Church Missionary Society" beilegte und schließlich darin die sichtbare Anerkennung fand, daß ihr 1815 die ersten anglikanischen Bischöfe beitraten. Damit war der erste Beweis dafür geliefert, daß man an der missionarischen Dynamik der Erweckung teilhaben konnte, ohne der Gefahr des Subjektivis­mus oder Separatismus zu verfallen. Ähnlich, allerdings unter presbyterianischem Vorzeichen, verlief die Entwicklung in Schottland. In Deutschland vollzog sich der Übergang nicht so schmerzlos. Die Kluft zwischen dem Vereinswesen der Erweckten und der etablierten Kirche war zumal im Bereich der Mission zu tief, der Vorurteile auf beiden Seiten waren zu viele, als daß man ohne weiteres den Schritt von der Mission der ecclesiola zur Mission der ecclesia hätte vollziehen können. Aber die Annäherung zwischen der Erweckung einerseits und der von romantischen Ideen mitinspirierten neulutherisch-kirchlichen Theologie andererseits konnte schließlich auch ihre Wirkung auf die Mission nicht verfehlen. Bahnbrechend für die Theorie wurde der Hannoveraner Ludwig Adolf Petri mit seiner Schrift "Die Mission und die Kirche" (1841). Die Zeit, in der die Mission als "Wärterin der kranken Mutter Kirche" habe fungieren müssen, sei nun vorbei. Jetzt fühle die Mutter Gesundheit und Kräfte wiederkehren, und die Mission könne in die ihr eigentlich angemessene Stellung einer "Tochter vom Hause" einrücken. Wie das in der Praxis aussehen müsse, sollte für den lutherischen Bereich zuerst die 1836 gegründete Dresdener (später Leipziger) Missionsgesellschaft zeigen. Aus einem Hilfsverein für Basel erwachsen, wurde sie vor allem durch den Einfluß freikirchlich-lutherischer Kreise immer mehr auf den Weg der konfessions- und kirchengebundenen Mission geführt. Eine Integration in die lutherische Kirche von Sachsen lag dabei außerhalb des Möglichen; auch die lutherische Erweckung dachte nicht daran, die Sondergestalt der Missionsgesellschaft der Kontrolle durch die Kirchenbehörden auszuliefern. Nicht an der Unterwerfung der Mission unter die verfaßte Kirche haftete das Interesse, sondern an einem durch die historische Orientierung der Romantik mitbedingten Rückgriff auf das lutherische Bekenntnis, denn darin meinte man die göttliche, durch die Tradition bestätigte Ordnung zu besitzen, ohne die auch die Mission ihren Dienst der Weitergabe des Heils nicht legitim zu tun vermochte. Der zeitweilig erhobene Anspruch, den Missionswillen des gesamten Luthertums zu repräsentieren, wurde der Leipziger Mission allerdings durch andere lutherische Missionsgründungen bestritten, so vor allem durch die Hermannsburger Mission (1849). Auch für diese galt aber der Grundsatz, daß die Kirchlichkeit der Mission sich primär in der Bekenntnisbindung erweisen müsse.

Fragt man auch hier nach Affinitäten zum Zeitgeist, so ist eine Anlehnung an den bis zum Revolutionsjahr 1848 im Abwarten verharrenden, danach aber zu offener Bestreitung liberaler Bestrebungen fortschreitenden Konservatismus unverkennbar. Die neulutherische Theologie der Schöpfungsordnungen, die diesen Tendenzen entgegenkam, wirkte auch in die Mission kräftig hinein und führte, unter anderem, zu einer verhängnisvollen Unsicherheit gegenüber dem Kastensystem in Indien, an der vor allem die Leipziger Mission schwer zu tragen hatte.

Weniger eindeutig war die nähere Bestimmung der Relation von Mission und Kirche, wenngleich es seit Petri in den Kreisen der lutherischen Erweckten nicht mehr zweifelhaft sein konnte, daß die Mission so oder so als Sache der Kirche zu verstehen war. Wilhelm Löhes Definition der Mission als der "Einen Kirche Gottes in ihrer Bewegung" war die späte Formulierung eines Konsensus, der von Anfang an die Distanzierung vom Missionsverständnis der frühen Erweckung markierte. Strittig blieben aber auch innerhalb der lutherischen Mission die praktischen Konsequenzen, die aus diesem Ansatz zu ziehen waren und die sich etwa in der verschiedenen Akzentuierung des missionarischen Amtes symptomatisch bemerkbar machten. Betrachtete man das kirchliche Amt als diejenige Instanz, die das göttliche Recht der Kirche als Heilsanstalt autoritativ zu wahren und zu vertreten hatte, so mußte die Mission schließlich zu der Folgerung gelangen, daß auch ihr Amt erst durch völlige Verkirchlichung seine eigentliche Vollmacht erhalten und behalten konnte. So wird die Enttäuschung des Pastors Louis Harms, des Vaters der Hermannsburger Mission, verständlich, als das Hannoversche Konsistorium 1851 es ablehnte, die ihm von Harms angetragene Leitung der Mission zu übernehmen. Andere Lutheraner dachten jedoch anders. Auch für sie war die Mission nicht mehr Privatsache, sondern ein im Bekenntnis der Kirche begründeter kirchlicher Auftrag. Aber das sollte nicht notwendig bedeuten, daß die Mission nun aufhörte, eine freie Sache, d. h. wesentlich eine Sache der Missionsgesellschaften, zu sein. Die Kirchlichkeit der Mission war durch die Bindung der Gesellschaften an das Bekenntnis völlig ausreichend gesichert. Hier - so schien es - hatte man den einzig möglichen Mittelweg zwischen den Extremen einer unkirchlichen Privatisierung der Mission einerseits und einer Fesselung durch die kirchenbehördliche Bevormundung andererseits. Im Idealfall müßte freilich die Kirche als ganze durch ihre "ordnungsmäßigen Organe" die Ausübung der Missionspflicht selbst in die Hand nehmen. Aber dafür fehlten offenkundig die Voraussetzungen. Solange auch nicht ernsthaft mit einer Änderung dieses Zustandes gerechnet werden konnte, blieb die kirchlich-konfessionell orientierte Missionsgesellschaft das einzig angemessene Instrument der christlichen Weltsendung. Von dieser Linie wich die Mehrheit der lutherischen Missionen auch dann nicht ab, als die älteren "Reich-Gottes-Missionen" ihre Sonderstellung dadurch zu festigen suchten, daß sie sich mit den zeitgenössischen Bestrebungen für Kirchenunion assoziierten. Wenn es auf diesem Boden paradoxerweise auch einmal zur totalen Integration von Kirche und Mission kommen konnte, wie das beim Experiment des Bistums Jerusalem der Fall war, so genügte schon der unionistische Charakter eines solchen Unternehmens, um es den Lutheranern zweifelhaft erscheinen zu lassen. Im übrigen konnten sie nicht ohne Genugtuung beobachten, daß ihre Position auch in den Missionen der früheren Erweckung ihren Einfluß ausübte, und z. B. die Berliner Missionsgesellschaft allmählich unverkennbar lutherisches Gepräge annahm.

IV.
Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts hatten sich, so schien es, die Verhältnisse konsolidiert. Die Missionsgesellschaft hatte sich auf beiden Seiten, bei den "Reich-Gottes-Missionen" und bei den kirchlich bestimmten Missionen, endgültig als das legitime und zweckmäßige Organ des christlichen Sendungsauftrags durchgesetzt, wenngleich beidemale mit grundverschiedener Motivierung. Neue Akteure kamen allenfalls als Außenseiter auf die Szene, etwa in der Gestalt des Allgemeinen Evangelisch-protestantischen Missionsvereins (1884), der sich die Ausbreitung "christlicher Religion und Kultur" zum Ziel gesetzt hatte, oder mit der Deutsch-Ostafrikanischen Missionsgesellschaft (1886), der einzigen eindeutig kolonialistisch festgelegten Mission, die es auf deutschem Boden gegeben hat und die als solche kaum zum Zuge kam. Die Organisationsform der Gesellschaft wurde auch in diesen Fällen in keiner Weise in Frage gestellt.

Trotzdem blieb nicht alles beim Alten. Die ungelösten Spannungen im Verhältnis von Mission und Kirche machten sich immer wieder bemerkbar, nicht zuletzt in gewissen Versuchen, die Eigenständigkeit der Missionsgesellschaft gegenüber der Kirche zu beschränken oder ganz aufzuheben. Was von lutherisch-freikirchlicher Seite seit langem dazu gesagt worden war, konnte plötzlich mit anderem Akzent etwa auch im Bereich der Berliner Mission aufgenommen werden: Hatte die "freie Vereinstätigkeit" in der Mission als Korrektiv gegenüber einer missionsunwilligen Kirche ihre unbestrittene Bedeutung, so sollte daraus doch kein Dauerzustand werden. Mußte nicht die unwiderlegbare kirchliche Zielsetzung der Mission, die Sammlung einer christlichen Gemeinde unter den Heiden, auch auf die Träger der Sendung ihre Rückwirkung haben, und mußten demgemäß nicht Leitung und Aufsicht der Mission allmählich doch in die Hände der Kirche übergehen? Gelegentlich konnte sogar die große Erfahrung der Reichsgründung als Zusatzargument aufgeboten werden: So wie das neue Deutsche Reich seine Kraft aus seinem "Organismus"-Charakter. ziehe, so müsse sich auch der "Organismus" der Kirche schließlich alles das eingliedern, was bisher in der Kompetenz der freien Vereine, nicht zuletzt auch der Missionsgesellschaften, lag (C. Büttner) (7).

Indessen blieben diese und ähnliche Stimmen ohne weitreichenden Widerhall, zumal, seit in den neunziger Jahren mit der "Evangelischen Missionslehre" von Gustav Warneck das Werk erschien, das den status quo auf lange hinaus zu sichern berufen war. Warneck war mit der neupietistischen und der konfessionell-kirchlichen Tradition gleich gut vertraut und hatte klar erkannt, daß die den beiden Richtungen gemeinsame Verpflichtung gegenüber der Organisationsform der Missionsgesellschaft als das stärkste verbindende Element nicht gefährdet werden durfte, wenn man nicht die Sache der Heidenmission überhaupt einem ungewissen Schicksal überantworten wollte. So nimmt Warneck jene Unterscheidung von Ideal und Wirklichkeit auf, die schon früher in den Kreisen der lutherischen Mission eine Rolle gespielt hatte: Da die Kirche ihrem Wesen nach Heilsanstalt ist, müßte sie sich auch selbst für die Heilsübermittlung verantwortlich wissen und demgemäß selbst Mission treiben. Die "äußeren Kirchenverbände" , mit denen man es heute zu tun hat, können nun aber das Ideal der wahren Kirche nicht rein verwirklichen und sind nicht im vollen Sinne als "Repräsentantinnen der Gemeinde Gottes" anzusehen. Mithin muß die freie Gesellschaft die Sendung tragen, denn in ihr ist noch am ehesten die Sammlung des "gläubigen Christenvolks" zu erkennen, in der die Vollmacht des Geistes und das allgemeine Priestertum lebendig geblieben sind und die man daher als die "der Gemeinde Jesu Christi einigermaßen sich nähernde Repräsentation" ansprechen darf.

So wenig das Gegenüber von Mission und Kirche durch die freischweifende Mission einzelner Charismatiker übersprungen werden kann, so überflüssig, ja womöglich gefährlich wäre, nach Warneck, eine enge organische Verbindung von Mission und "Kirchenverbänden". Gewiß muß man von den Gesellschaften erwarten, daß sie sich der bestehenden kirchlichen Situation anpassen, etwa hinsichtlich der in den Kirchen jeweils geltenden Bekenntnisse. Auch diese Anpassung soll aber über ein Minimum nicht hinausgehen. Während für die lutherische Mission die Treue zum lutherischen Bekenntnis das Kriterium der Kirchlichkeit war, begnügt sich Warneck mit einer ganz allgemein gehaltenen Verpflichtung auf die Bibel und das Apostolicum.

Warnecks Größe liegt ohne Zweifel darin, daß er am Ende des Jahrhunderts, das der protestantischen Mission ein ungeahntes Ausgreifen in die Weite der Welt brachte, die divergierenden Organisationsformen des Missionswesens in einer Weise zusammenfaßte, die zwar die Widersprüche und Inkonsequenzen nicht gänzlich zu beheben vermochte, wohl aber das geschichtliche Erbe auch für die Zukunft fruchtbar zu machen versprach. Eben dies Verfahren zeigt allerdings auch Warnecks Grenze. Heute, im Zeitalter der selbständigen jungen Kirchen, können die überkommenen Lösungen nicht mehr genügen, kann vor allem das Beharren bei der historisch gewordenen Gesellschaftsstruktur der Mission dem Charakter der christlichen Weltsendung als eines wesentlichen Werks der Kirche nicht mehr gerecht werden. Das Lehrgeld, das Warneck der Mission seiner Zeit hatte ersparen wollen, mußte von späteren Generationen sozusagen mit Zinsen nachgezahlt werden. Die Sanktionierung des geschichtlich Gewordenen, die für Warneck der Weisheit letzter Schluß war, hat, unbeschadet ihrer Wirksamkeit als eines praktikablen Kompromisses, die Lösung der Grundsatzfragen nicht nur nicht erleichtert, sondern belastet. Daran hat die bis heute überwiegend in der Sozietätsstruktur beharrende protestantische Mission noch immer zu tragen.

Anmerkungen
1) Näheres hierzu und zum Folgenden bei H.-W. Gensichen, Missionsgeschichte der neueren Zeit (Die Kirche in ihrer Geschichte, hrsg. v. K. D. Schmidt und E. Wolf, Bd. 4, Lieferung T, Göttingen 1961).
2) Zit. bei J. Aagaard, Mission, Konfession, Kirche. Lund 1967. S. 218.
3) Vgl. W. Conze, Der Verein als Lebensform des 19. Jh., Die Innere Mission 50, 1960, S. 227.
4) Thomas Haweis, zit. bei H. Frick, Die evangelische Mission. Bonn und Leipzig 1922, S. 250.
5) Zit. bei Aagaard. S. 193 f.
6) Zit. bei Aagaard. S. 265.
7) Vgl. Aagaard. S. 120 ff.