Prof. Dr. NAKAMICHI Motoo: Ankunft in Kobe am 11. März 2011
Von: Motoo Nakamichi [nmotoo@gmail.com] im Auftrag von Motoo Nakamichi [nmotoo@kwansei.ac.jp]
Gesendet: Dienstag, 15. März 2011 18:16
An: Nakamichi Motoo
Betreff: Rundbrief No. 1
Alle Lieben,
vielen Dank für e-Mail, Anruf, Chat von Euch. Wir haben uns sehr sehr gefreut, dass Ihr Euch uns und Japan zu Herzen nehmt und für uns und Japan betet. Um Euch unsere Situation und meine Gedanke mitzuteilen, schreibe ich einen kurzen Rundbrief.
Wir haben in Japan unser Leben neu angefangen. Eigentlich möchten wir unseren Bekannten und Freunden die schönen Erfahrungen mit Euch am liebsten erzählen. Aber bei allem Wiedersehen mit ihnen, mit "Hallo, Kyoko und Motoo, Wann seid ihr nach Japan zurückgekommen?", "Am 11. 3. letzten Freitag", "Das ist aber der Tag, an dem das Erdbeben aufgetreten ist. Wie konntet Ihr nach Japan zurückgekommen? Habt Ihr beim Flug keine Schwierigkeiten gehabt?" war das schwierig. In den letzten Tagen berichteten alle Fernsehprogramme pausenlos und ohne Werbung über die Schäden des Erdbebens, die Anzahl der Betroffenen, Vermissten und Atomkraftwerksunfälle. Die diesmaligen Erdbebenschäden sind so groß, dass sie die Schäden beim Erdbeben in Kobe 1995 übertreffen, bei dem über 6400 Menschen gestorben sind, das hatte damals schon die Welt schockiert. Vermutlich beträgt die Anzahl der Gestorbenen mehr als 10.000. Genaueres wissen wir noch nicht, weil es so viele Vermisste gibt.
Ich möchte Euch unsere jetzige Situation in Japan berichten. Aber ich bin ratlos, womit ich anfangen soll. Eigentlich ist unser Leben in Kobe ganz normal. Im Alltag spüren wir keine Erdbebenschäden und können nichts davon wahrnehmen, wie schwierig die Situation der Menschen dort ist; so ist es, wenn man keine Nachrichten sieht und keine Zeitung liest. Denn Kobe liegt etwa 900km südwestlich von Fukushima, wo die Atomkraftwerke sind. Fukushima ist etwa so weit weg von uns wie Stuttgart und Kiel.
1. Solidarität
Aber trotz dieser Entfernung sind wir auch mitten im Erdbeben. Meine Fakultät und Uni haben schon am Samstag angefangen, die Studenten, die aus dem Erdbebengebiet gekommen oder in ihre Heimat im Erdbebengebiet zurückgekehrt sind, zu befragen, wie es ihnen geht. Ich habe zur Zeit keine umfassende Information von den Studenten. Aber erst heute wurde meine Fakultät von einem Student, der gerade zu seiner durch Erdbeben beschädigte Heimatstadt zurückgekehrt ist, informiert, dass er lebt und nicht verletzt ist.
Ich bekommen jeden Tag von unserer Kirche (Kyodan) und vom YMCA Japan Bericht über die Situation der dortigen Gemeinden und des YMCA. Leider wurden viele Kirchen durch Erdbeben beschädigt. Einige Gemeinden stellen den Betroffenen, die ihr Haus verloren haben, ihrem Kirchenschiff zur Verfügung. Der YMCA hat schon Hilfsaktion angefangen, indem er alle YMCAs um Hilfe ersucht hat.
Am letzten Sonntag haben viele Studenten und Schüler in vielen Ecken auf den Straßen in Kobe zu Hilfe und Spenden für die Betroffenen aufgerufen. Meine Tochter wollte nächste Woche mit ihren Freundinnen eine Reise machen. Aber sie haben sich entscheiden, auf die Reise zu verzichten und stattdessen auf der Straße Spenden zu sammeln.
Die Schäden der Gebäude und Straßen kann man zwar fotografieren und veröffentlichen und in wenigen Jahren können sie wieder repariert werden. Aber die seelischen Schäden der betroffenen Menschen kann man nur durch menschlichen Barmherzigkeit und Solidarität in einem langen Prozess des Tröstens heilen. Wir möchten bei allen Gelegenheiten und auf vielerlei Weise "Herz und Mund und Tat und Leben"(BWV 147) mitteilen, dass sie spüren, sie sind nicht allein gelassen. Das verletzte Leben der Menschen kann nur in der Gemeinschaft und im Zusammenleben geheilt werden. Wir erinnern uns in dieser Situation an Jesu Wort, "Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen."(Mt 28,20), âSiehe hier! oder: da ist es! Denn sehet, das Reich Gottes ist inwendig in euch."(Lk 17,21) , auf diese Weise interpretieren.
Aber heute habe ich etwas Trauriges gehört, dass nämlich einige ausländische Kirchen ihren Missionaren in Japan befohlen haben, in ihr Heimatland zurückzukehren, so wie es die ausländischen Firmen ihren Mitarbeiten befohlen haben. Ich verstehe gut, dass die Kirche eine Verantwortung für die Sicherheit ihrer Missionare hat. Besonders wenn sich die Gefahr einer Explosion des Atomkraftwerks ereignen sollte, dann ist das eine vernünftige Entscheidung; Ich kann ihnen nichts vorwerfen, aber â¦
2. Atomkraftwerke
Sicher hört Ihr ständig die Nachrichten über die Kernschmelze in den beschädigten Atomkraftwerken in Fukushima. Wir haben auch große Angst. Wir, unsere Kirche, hat auch Aktionen gegen die Atomkraftwerkspolitik unterstützt. Aber immer wieder wurde von der Regierung und von den Energiefirmen behauptet, wie nötig Atomkraftwerke für Japan sind und wie sicher Atomkraftwerke gegenüber Erdbeben gebaut sind. Ich glaube schon, dass die Atomkraftwerke erdbebensicher gebaut wurden. Aber das letzte Erdbeben war so stark, dass es die menschliche Vorstellungskraft weit überstiegen hat. Aber ich möchte nicht für Atomkraftwerke plädieren. Ich denke, dass der Sicherheitsmythos der Atomkraftwerke durch das Erdbeben zusammengebrochen ist. Das ist eine gemeinsame Aufgabe der Länder und Kirchen, die Atomkraftwerk haben. Wir müssen die Geschichte von Noah neu lesen und interpretieren. Aber ich wünsche mir Gottes Segen, nämlich den, den Gott nach der Großen Flut den Menschen gegeben hat.
Ich möchte meinen Rundbrief mit einem Gebet von mir schließen.
Unser Gott, der Himmel und Erde geschaffen hat,
Blieb, Du Gott, mitten in den Menschen, die durch das Erdbeben ihre Häuser verloren haben, damit sie heute auf deinem Schoß schlafen können.
Bleib, Du Jesus, mitten in den Menschen, die durch das Erdbeben ihre Familie oder Freunden verloren haben, damit sie wahrnehmen, dass sie nicht allein sind.
Bleibe, Du Heiliger Geist, mitten in den Menschen, die durch das Erdbeben ihre Zukunft Hoffnung verloren haben, um ihnen aufs beste mit unaussprechlichem Seufzen zu vertreten.
Bleib, Du Gott bei uns, damit wir in der Solidarität mit den Menschen in Not, in großer Angst und in tiefer Trauer bleiben und wahrnehmen können, Dein Reich ist unter uns.
Amen.
Euer Motoo Nakamichi
(Dr. Motoo NAKAMIHI wurde im Wintersemester 2010/11 in Heidelberg zum Doktor der Theologie promoviert mit einer Arbeit bei Prof. Dr. Sundermeier über âDie Inkulturation der Bestattungsliturgie in Japanâ. Er lehrt weiterhin an der Kwansei Gakuin Universität in Kobe Praktische Theologie und Missionswissenschaft. [www.doam.org/pr_stud_japan.html]