Meditation: 2. Korinther 12,9

15.01.2012   2. Sonntag nach Epiphanias

Die biblische Jahreslosung für 2012 lautet:
Jesus Christus spricht: Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig. 2. Korinther 12, 9

Liebe Leserinnen und Leser,
liebe Brüder und Schwestern,

unsere Vorfahren kannten den Spruch: An Gottes Segen ist alles gelegen. Dass sich das als wahr erweisen möge, wünsche ich Ihnen zum neuen Kalender und zum neuen chinesischen Jahr des Drachens – 龙年 long nian.

Verspielt sollte es werden, das zu Ende gehende Jahr des Hasen, und leichter als das Tiger-Jahr zuvor; so las ich vor einem Jahr in einer Erläuterung zu den Eigenschaften der chinesischen Tierkreiszeichen. Mein Blick zurück macht mir klar: Das kann man nicht so pauschal sagen. In meinem vierten Jahr in China verstärkt sich eher mein Eindruck, dass Anderes im Vordergrund steht; dass ein hohes Maß an Aufmerksamkeit, Wachheit, und Kraft gefordert werden, und dass die Zeiten des Spiels, des Innehaltens und der inneren Ruhe eher selten, manchmal hart erkämpft und deshalb kostbar sind.

Vor kurzem sagte ein deutscher Expat zu mir: „Man kommt hier hin nach China um zu arbeiten. Am Anfang ist einem das vielleicht nicht so klar, aber das ändert sich bald. Wenn man allerdings nicht nur arbeiten, sondern auch leben will, dann muss man nach Deutschland.“ Ist das tatsächlich so? -

China ist und bleibt eine Herausforderung. Man kann nur staunen darüber, was alles möglich ist, und ab und an muss man heftig den Kopf schütteln über das Unmögliche, das passiert.

Manchmal frage ich mich, wie die Chinesen selbst mit dieser Welt der Gegensätze zu Recht kommen. Dann stelle ich Hypothesen auf. Zum Beispiel diese: ‚Was die Koexistenz schärfster Gegensätze betrifft, da hat China eine 5.000-jährige Geschichte. Die Chinesen haben sich daran gewöhnt; diese Gewöhnung steckt in ihren Genen.‘ Oder ich widerspreche mir selbst in einer anderen Beobachtung: ‚Dass die Chinesen alles einfach so hinnähmen, stimmt nicht. Die einen merken genau, wenn ihnen Unrecht getan wird, und die anderen, die Täter, wissen, wo Unrecht tun am profitabelsten ist. Manche wissen auch genau, wo es die Zielobjekte am meisten schmerzt.‘

In meinem Beruf und in meinem Alltag begegne ich Chinesen aus allen gesellschaftlichen Schichten. In den untersten und unteren Einkommensschichten – das sind ca. 800 - 900 Millionen Menschen – ist der Alltag durch einen sehr hohen Kraftaufwand geprägt. Ich denke an Näherinnen in einer Fabrik oder an Wanderarbeiter auf dem Bau:  10 Stunden pro Tag, 7 Tage pro Woche, für 1.000 - 2000 RMB im Monat. Bei dem angesprochenen Segment, also der Mehrheit der chinesischen Gesellschaft, geht es um die physische Kraft für das wirtschaftliche Überleben, vielleicht nicht (mehr) bis morgen, aber dann doch bis übermorgen. Bei uns - wirtschaftlich zumeist sehr gut situierten - Ausländern dagegen geht es im Kern um das Aufbringen psychisch-emotionaler Kraft in dieser Lebenssituation fern der Heimat. (Bei manchen ist es so, dass sie bereits in der Heimat, vor der Ausreise nach China, nach dieser Kraft gesucht haben.)

Natürlich gibt es eine Schnittmenge, und dort kann Begegnung zwischen Chinesen und Ausländern stattfinden. Wir begegnen uns dort, wo wir als ganze Menschen (Körper, Seele, Geist) gefragt sind, wo wir Interesse füreinander entwickeln und Ressourcen teilen. In der christlichen Ökumene mit chinesischen Glaubensgeschwistern z.B. erfahre ich, dass das Vertrauen auf den Gott der Liebe diejenige Quelle ist, die sowohl dem körperlich Erschöpften neue seelische Energie zufließen lässt als auch dem seelisch Ausgebrannten wieder neue Tatkraft verleiht. Ich denke, ganau das ist mit den Worten Jesu aus unserer Jahreslosung gemeint: Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.

Diese Worte sind die zweite Hälfte eines umfassenderen Satzes, der dem Apostel Paulus in heftigen inneren Auseinandersetzungen von Jesus zugesprochen wurde: Das Wort für „Kraft“ lautet im Griechischen „dynamis“ - es erinnert an unser eingedeutschtes Wort Dynamik. Und da, wo Luther „mächtig sein“ übersetzt, steht im Griechischen ein Wort, das „zur Vollendung/ zum Ziel/ zur Erfüllung kommen“ bedeutet.

Wir könnten die Jahreslosung also auch in eigene Worte fassen, etwa so:

Jesus spricht: Ich habe dich lieb, und ich sorge für Dich: Meine Energie wird sich in dir genau dann entfalten, wenn du keine Kraft mehr hast.

So, oder in der traditionellen Variante: Ein faszinierender Zuspruch!

Zu Beginn dieses neuen Jahres wünsche ich uns, dass wir – besonders in schwierigen Zeiten - diese Kraft in uns selbst, in Familie und Freundeskreis, am Arbeitsplatz und in unserer Gemeinde erfahren. Das ist Gnade. Und wenn wir sie miteinander teilen, wird sie nicht weniger, sondern mehr. Das ist noch mehr Gnade.
Wie schon unsere Vorfahren sagten: An Gottes Segen ist alles gelegen.

Mit herzlichen Grüßen,  Ihr   Karl-Heinz Schell

Anbetung
Herr und Gott,
die Weisen aus dem Morgenland
folgen deinem Licht.
Du machst licht und hell.
Den Mächtigen setzt du Grenzen.
Die Zukunft unserer Kinder ist bei dir in guter Hand.
Angst hilfst du aushalten
und verwandelst sie
in Zuversicht.
Ich bin dein –
hilf mir.


Segen
Gott segne dich mit Menschen, die dich zu ihm bringen.
Er bewahre dich vor Menschen, die dir den Weg zu ihm versperren.
Er mache dich zu einem Menschen, der für andere eintritt.
Er richte dich auf, damit du ihm folgen kannst.
Amen.

 

Wochensprüche

HEUTE, 8. Februar 2015, findet der Abschiedsgottesdienst von K.-H. Schell in Peking statt.
WIR DANKEN IHM FÜR DIE GEISTLICHE NAHRUNG, DIE ER JAHRELANG VERMITTELT HAT.

Die Wochensprüche werden von Pfr. Dr. Karl Heinz Schell in Beijing für seine dortige deutsche Gemeinde geschrieben.

 

Ev. Gottesdienste finden in der Dt. Botschaft statt.

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